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Zwei Minuten Musik

Das Deutsche Symphonie-Orchester würdigt den ungarischen Komponisten György Kurtág mit drei Porträtkonzerten

Das größte Rätsel ist wohl, dass György Kurtág so lange im Schatten der Musikgeschichtsschreibung stand. Natürlich tauchte der Name des ungarischen Komponisten hier und dort auf. Aber ihn in einem Atemzug zu nennen mit Großmeistern wie György Ligeti, Pierre Boulez oder Luigi Nono wäre wohl noch vor fünfzehn Jahren niemandem eingefallen. Ihn heute zu den führenden lebenden Komponisten Europas zu zählen gehört hingegen zum guten Ton.

Dabei hat Kurtág seit den Fünfzigerjahren und ununterbrochen Werke mit überzeugendem avantgardistischem Anspruch geschrieben. Seine musikalischen Konzepte, das schreibt sich heute ganz leicht: Sie waren seit je so klug wie überzeugend. Die peinlich nachlässige Rezeption lässt sich wohl nur noch mit einem einzigen Argument rechtfertigen: Kurtág schrieb nichts Großes. Stücke von Minutendauer für kleine, oft obskure Besetzungen prägen sein Werkverzeichnis. Die Zyklen, im Falle Kurtágs ein besseres Wort für Miniaturenbündel, blieben regelmäßig als work in progress unvollendet.

Man konnte seinen Anker als Historiker also auswerfen, wie man wollte. An Kurtágs Oeuvre blieb er nicht haften. Kein Opus magnum. Keine sperrigen Orchesterwerke, keine monströsen Opern. Ein erster Versuch, etwas Symphonisches zu schreiben, blieb in den Siebzigerjahren unvollendet. Das erste Stück „für Orchester“ aus dem Jahre 1991 dauerte ganze zwei Minuten; der Meister der kleinen Form zeigte sich angesichts der vielen Notenlinien offenbar bald erschöpft.

Man darf das vielleicht nicht überbewerten, aber einen entscheidenden Schritt zum Symphonischen vollzog Kurtág in Berlin; mit „quasi una fantasia“, einem Auftragswerk der Berliner Festwochen 1988, verteilte Kurtág das Ensemble im Raum, um den Wirkungsbereich seiner Musik erstmals über kammermusikalische Intimität hinaus auszuweiten. Seither sind nun nicht gerade reihenweise Monsterpartituren entstanden. Aber Kurtág, der am Montag 75 Jahre alt wird, hat seine so konzentrierten wie geschmeidigen Klangkosmen doch einigermaßen mühelos auf den großen Apparat übertragen in Werken wie den 1991 begonnenen „Messages“, einer Sammlung musikalischer Botschaften an Freunde und Kollegen, oder der Trauermusik „Stele“, einem ersten Stück „für großes Orchester“, das Kurtág 1994 als Fellow des Wissenschaftskollegs, wiederum in Berlin, komponierte.

In seinen Werken verknüpft Kurtág die losen Enden der Musikgeschichte stets zu einem stattlichen Knoten. Allgegenwärtig sind dabei Beethoven, der Form und Ausdruck in eins setzte, Anton Webern als Meister des musikalischen Substrats und Konzentrats und Béla Bartók, der der ungarischen Moderne eine eigene, im Volkslied verwurzelte Farbe verpasste.

Das Deutsche Symphonie-Orchester tilgt an diesem Wochenende eine Teilschuld der verspäteten Kurtág-Rezeption mit drei Porträtkonzerten anlässlich des bevorstehenden 75. Geburtstags. Und während sich ein erstes Konzert gestern Abend der Kammermusik widmete, wenden sich Kent Nagano und das DSO morgen den Orchesterwerken zu (20 Uhr, Philharmonie). In einem umsichtig gestalteten Programm trifft Kurtág da auf Anton Webern, Charles Ives und Béla Bartók. Am Montag begleitet das Solisten-Ensemble des DSO die SängerInnen Rosemary Hardy und Kurt Widmer durch die Vokalmusik des ungarischen Komponisten. Außerdem auf dem Programm dieses Konzerts steht jenes „quasi una fantasia“ für Klavier und im Raum verteilte Instrumente, mit dem Kurtág 1988 der Nachwelt was zu beißen gab. BJÖRN GOTTSTEIN

Montag, 20 Uhr, Kammermusiksaal der Philharmonie, Herbert-von-Karajan-Straße 1, Tiergarten

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