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Der Tod ist ein Ausrufezeichen

Ein spätkapitalistischer Probelauf zwischen Selbsterfahrung, Echtzeitspiel und Videodokumentation: Jan Jochymski und seine Gruppe TheaterschaffT zeigen in den Sophiensälen „www.kahlschlag.com“. Eine Empfehlung für alle Big-Brother-Geschädigten

von NIKOLAUS MERCK

Am Anfang war die Aventiure des Mittelalters. Später umrundeten Jules Vernes Mannen die Erde in 80 Tagen, und Maharishis Jünger tummelten sich in Poona. Immer ging es dabei um Fahrten, mal ins Offene, mal ins eigene Ich. Was im Grunde aufs selbe herauskam. Erfahrung war das Ziel, Erkundung innerer und äußerer Grenzen, die zu überwinden ein besseres, da anderes Leben versprach. Längst hat der Kapitalismus Selbsterfahrungsabenteuer integriert. Kenntnis eigener Beschränkungen ist heute Voraussetzung für Teamfähigkeit. Und diese notwendige Bedingung für die geschmeidig reagierende Ökonomie.

Jan Jochymski ist einer der jungen Theatermacher, der diese Arbeitsmethoden aus der Warenproduktion auf die Kunst übertragen hat. Mit seinem Verein TheaterschaffT hat er sich in den letzten Jahren am Dresdner Theater in der Fabrik und dem Theaterhaus Jena einen Namen gemacht mit diversen Projekten, die er jenseits literarischer Vorlagen über Improvisationen erarbeitete. Kurz vor seinem Wechsel an die großen Berliner Theater zeigt TheaterschaffT jetzt in den Sophiensälen seine neueste Unternehmung. Eine Versuchsanordnung mit Torwand, Turnmatte und Reck, Videokamera und Überlebensschlafsack. Auf diesen Paukboden stellen sich fünf Personen, ausgewählt nach dem Zufallsprinzip, als Rohstoff für eine Produktion zur Verfügung. Wo fünf Individuen waren, soll die Gruppe werden, in sieben Tagen Isolation von der Außenwelt. Wozu? „Nicht fragen! Spielen!“, kommandiert Robert (Axel Strothmann), Erfinder und Spielleiter von „www.kahlschlag.com“, wobei es sich, was die Probanden nicht wissen, um den Probelauf für ein neues TV-Format handelt.

Doch wer zu viel mit Ausrufezeichen hantiert, kommt schließlich dadurch um. Auch wenn zunächst alles wie geschmiert abzulaufen scheint. In Spielen enthüllen sich Ängste und Wünsche. Der Gruppenterror trägt das Seine dazu bei, dass der Geist des Kollektivs sich seiner selbst bewusst wird. Bevor der Pfropfen entfernt und der Geist aus der Flasche entlassen wird, steht ein eigentümlich naives Übergangsritual: Das Nacktmahl zu sechst, bei dem sich auch der Eigenbrötler Karsten (Holger Kraft) in diesen Vortrupp neuer Menschen integriert.

Danach geht’s Schlag auf Schlag. Videobilder zeigen eine mutige Real-Aktion des Jochymski’schen Stoßtrupps in einer Shopping-Mall. Christian (Stephan Thiel) stolziert nackt zwischen verlegenen Passanten. Silke (Tilla Kratochwil), umgeben von verwirrten Wachschutzleuten, liegt tot in einer Blutlache, bewacht von Hanna (Tjadke Biallowons) und Falk (René Marik) als moderne Pistoleros. Zurück im Echtzeitspiel hat sich der Selbsterfahrungs- zum Kommandotrupp gemausert und schleppt eine Geisel (Ilka Teichmüller) mit sich. Die zuletzt, wenn Robert an zu vielen Ausrufezeichen zerbrochen ist, sich ebenfalls als TV-Produzentin entpuppt und die Macht an sich reißt.

Da ist natürlich die Kolportage, die „kahlschlag“ unter anderem zum Thema macht. Was aber nichts schadet. Denn als Reflektion auf die Reflektion über die Grenzen von Realität und Spiel lohnt das Opus, auch wenn sich Jochymski zuletzt um den Probierstein der Tragödie im Medienzeitalter, den Tod eines Mitspielers, doch noch herumdrückt. Aber allein wegen der durchgespielten Bestrafungsfantasien an den Produzenten von TV-Reality-Soaps sollten alle Big-Brother-Geschädigten einen Besuch in den Sophiensälen in Betracht ziehen.

Nächste Vorstellungen: 18., 22.–25. Februar, 20 Uhr, Sophiensäle, Sophienstraße 18, Mitte

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