: Steiner mutiert zum Freund der Juden
Die Waldörfler haben einen „Gutachter“ gefunden, der Rudolf Steiner vom Vorwurf des Antisemitismus weißwäscht
MÜNCHEN taz ■ Die Waldorf-Bewegung versucht verzweifelt, ihren Spiritus Rector und Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, vom Vorwurf des Antisemitismus reinzuwaschen. Steiner soll ein „aktiver Gegner des Antisemitismus“ gewesen sein, behauptet der Bund der Freien Waldorfschulen – gestützt auf eine neue „wissenschaftliche Studie“ von Lorenzo Ravagli. Der Münchner Autor ist allerdings alles andere als ein neutraler Gutachter. Ravagli ist Anthroposoph und gibt das „Jahrbuch für anthroposophische Kritik“ heraus.
Das ARD-Magazin „Report“ hatte vergangenes Jahr Hefte von Waldorfschülern präsentiert, die zeigen, wie Steiners Rassenlehre in die Pädagogik einfließt. In den Notizen aus dem Geschichtsunterricht ist vom sagenhaften Atlantis die Rede und von Ariern, die den untergehenden Kontinent verließen, um Hochkulturen zu gründen.
In anderen Schulheften wird vermittelt, dass Russen unbeherrscht und Franzosen oberflächlich sind; die so genannten Buschmänner hätten Hohlkreuze und starke Hinterteile. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften nahm die Berichterstattung über rassistische Tendenzen in der Steinerlehre zum Anlass, das Buch „Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst“ des Anthroposophen Ernst Uehli auf Indizierung zu prüfen. Uehli schwadroniert in dem Werk über das „Genie der arischen Rasse“ und über die Indianer als „Saturnrasse“, die „an Vergreisung zugrunde geht“, und er behauptete, „die schwarze Pigmentierung der Neger hat ihre Ursache in einem zu schwachen Ich-Gefühl“. Das Buch stand auf einer Liste von Werken, die Waldorflehrern zur Vorbereitung des Unterrichts empfohlen wird. Herausgeber der Broschüre ist die Pädagogische Forschungsstelle des Waldorfschulbundes.
Gestützt auf Ravagli, weist der Bund der Freien Waldorfschulen die „gegenstandslosen Vorwürfe“ zurück. Steiner, der dem Judentum die Existenzberechtigung absprach und gern über das „semitische Zersetzungsferment“ jammerte, soll nun sogar ein Philosemit gewesen sein. Dieses Bild zeichnet Ravagli und bezieht sich dabei auf einen Brief, den Steiner als 20-Jähriger verfasste, und auf einige Artikel – allesamt geschrieben in den Jahren 1897 bis 1901, als Steiner seine Anthroposophie noch nicht entworfen hatte.
In dieser Zeit schrieb Steiner spöttische Kommentare gegen die zeitgenössische Esoterik und lehrte an der Arbeiter-Bildungsschule der SPD. Unter dem Einfluss eines Freundes, des jüdischen Dichters Ludwig Jacobowski, engagierte er sich tatsächlich auch in einem Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Allerdings mit merkwürdigen Argumenten: Steiner meinte, die Zionisten trügen die Hauptschuld am Antisemitismus. Sein Freund Jacobowski, der im Dezember 1900 starb, wollte sogar einen Unterschied zwischen „ehrenhaften“ und „undeutschen“ Antisemiten erkennen.
Dann vollzog Steiner seine große Wende zur Esoterik. Im September 1900 hielt er seinen ersten Vortrag vor Okkultisten in Berlin, den Theosophen. 1902 avancierte Steiner zum Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophen. In den folgenden Jahren mixte er Esoterik mit Nietzsches elitärem Konzept des Übermenschen sowie antisemitischen und germanophilen, völkischen Ideen. Das Ergebnis war jene Lehre von den so genannten Wurzelrassen, ihren spirituellen Missionen und erleuchteten Führern, die für die Anthroposophie charakteristisch ist.
Egoistisch und wurzellos seien die Juden, meinte Rudolf Steiner fortan, der in den 20er-Jahren die Waldorfschule gründete und heute noch der Ideengeber für die 180 deutschen Waldorfschulen ist. Er kombinierte traditionelle christliche Stereotype mit dem anthroposophisch-theosophischen Evolutionsmodell. Demnach sind die Juden Gottesmörder, leugnen den Messias und haben ihre historische Mission erfüllt: Sie sollten das körperliche Gefäß für die Inkarnation des Christus, der Anthroposophen als Sonnengeist gilt, bereitstellen und den Monotheismus entwickeln. Seither lebten die Juden nach einem unfruchtbaren Gesetz, so Steiner. Sie seien spirituell erstarrt, nationalistisch und zugleich kosmopolitisch. Solche Aussagen unterschlägt Ravagli in seinem Text, der den Waldörflern als Argumentationshilfe gegen vermeintliche Medienhetze dienen soll. Stattdessen bügelt der Anthroposoph jede Kritik an seinem Guru ab. Die Vorwürfe von „Report“ weist Ravagli als Hysterie und „geistigen Terrorismus“ zurück. Der Anthro-Autor knöpft sich sogar die wenigen Anthroposophen vor, denen manche Bemerkung Steiners peinlich ist: Sie seien vorschnell bereit gewesen, Vorwürfe zu übernehmen.
Ravaglis „Untersuchung“ zeigt einmal mehr, dass sich der Bund der Freien Waldorfschulen schwer tut, mit Kritik von außen umzugehen. Im Sommer hatte sich der Bund von Uehlis Buch distanziert. Der Dachverband kam so einem Verbot des Werkes zuvor. Nun tingelt Ravagli durch die Lande, um den großen Lehrmeister zu exkulpieren. Am Wochenende macht er im Hamburger Rudolf-Steiner-Haus Station, um zu zeigen, wie Steiner „nur richtig gelesen und interpretiert“ wird. PETER BIERL
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