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Türkei stürzt in schwere Finanzkrise

Politischer Konflikt zwischen Staats- und Ministerpräsidenten um die Verluste der vier größten Staatsbanken führt zur Freigabe der türkischen Lira. Währung verlor gestern zwischenzeitlich bis zu 30 Prozent ihres Wertes. IWF will weiter unterstützen

Aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es war eine der längsten Nächte der türkischen Wirtschaftsgeschichte. Wer wissen wollte, ob die Regierung in Ankara tatsächlich zu dem denkbar drastischsten Mittel der Krisenbekämpfung greifen und die Bindung der türkischen Lira an Dollar und Euro aufheben würde, musste sich bis 2 Uhr 15 (Ortszeit) gedulden. Erst dann war klar: Die Lira wird freigegeben und der Wechselkurs zum Dollar zukünftig täglich nach Angebot und Nachfrage ausgehandelt. Mit dramatischen Folgen: Die Währung verlor zwischenzeitlich knapp 30 Prozent. Bis zuletzt hatte es noch Hoffnungen gegeben, dass die Wechselkursfreigabe auf eine gewisse Bandbreite eingeschränkt würde. Doch letztlich ließ die Regierung jeden Versuch fallen, steuernd auf die Finanzmärkte einzuwirken. Angeblich hatte der Vizechef des Internationalen Währungsfonds (IWF) Stanley Fischer in Ankara für die radikale Lösung plädiert.

Am Donnerstagvormittag schoss der Kurs der US-Währung dann erst einmal um ein Drittel nach oben. Wer Devisen kaufen wollte, musste für einen Dollar statt 680.000 Lira jetzt über eine Million zahlen. Der Kurs schwankt allerdings stark, hatte sich am Nachmittag auf knapp 800.000 Lira eingependelt. Experten rechnen damit, dass sich die Lira-Abwertung um 15 bis 20 Prozent einpegelt. Davon ist praktisch jeder in der Türkei betroffen. Am unmittelbarsten trifft es all jene, die Importe in Dollar zahlen müssen. Da jedoch über Öl, Autos, Maschinen, Haushaltsgeräte bis hin zu Lebensmitteln etliche Importwaren in den türkischen Läden stehen, verteuern sich die Lebenshaltungskosten erheblich, ohne dass im Gegenzug die Löhne steigen. Bei einem Durchschnittseinkommen von rund 500 Mark führt das zu echten Existenzschwierigkeiten.

„Wir müssten uns beim Volk entschuldigen“, bekannte ein Exwirtschaftsminister im Fernsehen. Die amtierende Regierung denkt allerdings gar nicht daran. Dabei wurde die Krise erst durch einen massiven Streit zwischen Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer und Ministerpräsident Bülent Ecevit ausgelöst. Während einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats hatte Sezer angekündigt, dass eine ihm rechenschaftspflichtige Kontrollkommission sich die staatseigenen Banken vornehmen würde. Grund dafür war die Meldung, dass die vier größten staatseigenen Banken im Jahr 2000 einen Verlust von 20 Milliarden Dollar erwirtschaftet haben.

Nicht nur Sezer vermutet, dass dieser Verlust durch „faule Gefälligkeitskredite“ an Personen, die den Regierungsparteien nahe stehen, entstanden ist. Als der Staatspräsident dem Ministerpräsidenten vorwarf, er säße auf einem Sumpf statt diesen trocken zu legen, verließ Ecevit empört die Sitzung. Mit Vorwürfen gegen Sezer schürte er die Krise, was dazu führte, dass ausländische Investoren Geld abzogen und die türkischen Banken in Devisen flüchteten.

Obwohl IWF-Chef Köhler gestern ankündigte, der Währungsfonds würde die Türkei weiterhin stützen, ist das vor 14 Monaten beschlossene Reformprogramm mit der Freigabe der Wechselkurse praktisch gescheitert. Die Inflation, deren Bekämpfung eines der Hauptziele war, wird jetzt wieder steigen. „Alle Opfer der letzten 14 Monate waren umsonst“, klagen denn auch die Gewerkschaften völlig zu Recht.

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