: Die tapfere Sünderin
Aus Merseburg THOMAS GERLACH
Fürbittandacht. Was sonst? Das hätte sicher auch hier geholfen. Die Glocken hätten geläutet, die Kirche wäre voll gewesen, die Kollekte für den Tierschutz bestimmt. Fertig. Und keiner hätte sich aufgeregt. Vielleicht hätten sogar die Bauern im Stall und die Leute im Schlachthaus davon erfahren. Ein Pastor lädt eben in die Kirche ein, genauso wie ein Arzt Spritzen gibt und ein Bauer Kühe melkt – geordnete, sinnvolle Bahnen. Annette-Christine Lenk ist dieser Gedanke auch gekommen. Vor fünf Wochen war das: BSE in Sachsen-Anhalt. Bisher gab es Rinderwahn in Bayern, Schleswig-Holstein, Niedersachen, nun also hier. Der Kelch ist im Osten angekommen, und er stand vor der Nase von Annette-Christine Lenk. Der Bischof aus Magdeburg rief an, beide waren sich einig: „Wir müssen irgendwas machen.“
Sie hätte den dortigen Ortspfarrer anrufen können. „Ich übernehme Ihre Gottesdienste, Sie gehen in den Stall!“ Sie schaut auf. Ein Grübchen auf dem Kinn und eine Stimme, die jede Kirche beschallt, auch ohne Mikro. So eine bringt nicht nur das Evangelium unters Volk. So eine möchte man nicht unbedingt zum Chef. Annette-Christine Lenk ist nicht die Pfarrerin von Mücheln, sondern Superintendentin. Der Ortspastor hätte geschluckt, vielleicht geflucht und sich ins Auto gesetzt.
Sie hockt im Sessel, Füße unter dem Wollkleid, karminroter Schal, und spielt mit dem Ring am Finger. Pastorenwohnung – geschliffene Dielen, Bücher und die Menora, der siebenarmige Leuchter. Es gibt gemütlichere Plätze als den Kuhstall und Schöneres als ein Schlachthaus. Auch wenn dort kein Blut geflossen ist. „Nein, es war kein Schlachten. Es war Töten.“ Annette-Christine Lenk kennt den Unterschied. Das ist fast schon Theologie. Wenn sich das Motiv ändert, verändert sich die Sache: Kein Schlachten, um zu essen, kein Bolzenschussgerät, kein Kühlhaus und kein Rinderbraten. Schlachten kann ein Fest sein, Töten nur eine Tat. Eine Spritze, ein Container und eine Fahrt zur Beseitigungsanstalt, eine Entsorgung, kein Verzehr. Und ein paar dutzend Menschen dazwischen: Tierärzte, Technisches Hilfswerk, Feuerwehr und Schlachthofpersonal. Und Frau Lenk, vierzehn Dienstjahre und Berliner Dialekt – im tiefsten Sachsen-Anhalt.
Den Arbeitsplatz austreiben
„Eigentlich war alles ganz unspektakulär.“ Annette-Christine Lenk winkt ab, zündet eine Zigarette an. Die Tiere wurden abgemolken, zu je 35 verladen, ein paar Kilometer hinausgefahren zu dem alten Schlachthof, der längst stillgelegt war. Nahezu Alltag, wenn da nicht die Polizei gewesen wäre. Und die Kameras, die das Wesentliche doch nicht sahen. „Die haben mit den Tieren ihren eigenen Arbeitsplatz ausgetrieben!“ Eine Handvoll Melker und knapp tausend Kühe, säuerlicher Dunst, dampfende Haut - Arbeitsplatzvernichtung zum Anfassen. „Das ist ein Scheiß“, rief sie dem Bürgermeister zu. „So ging es den Angestellten in Buna auch, als sie die Karbidöfen abgerissen haben. Die gleichen Gesichter!“ Solche Gesichter hat sie im Gottesdienst noch nicht gesehen. Als das DDR-Chemiewerke geschlossen wurden, war sie nicht dabei, das ist schon Jahre her, und es kratzt sie heute noch.
Wie oft haben wir als Kirche die Menschen allein gelassen?“ Annette-Christine Lenk ist aufgesprungen, läuft zur Tür.„Und die Tierschützer! Nächtelang haben die angerufen.“ Das hat vielen nicht gepasst. Sie kommt mit Mineralwasser zurück. Eine Theologin sanktioniere das Töten, hieß es. „Neben der Tierliebe gibt es auch die Liebe zum Geld.“ Sie lässt die Birkenstockschuhe stehen, zieht die Füße wieder unters Kleid. „Das fängt doch nicht mit Marktbereinigung und BSE an! Äpfel auf die Kippe, Kaffee ins Meer – da hat einem doch damals das Herz geblutet.“ Butterberg, Fleischberg, Milchsee: Die Vorboten der Rindertötung waren längst vergessen. Ihr Kopf dreht sich heftig: „Kein Fleisch, kein Strom, kein Auto – alles schöne Sachen. Ich kenne Leute, die finden ohne Auto keine Arbeit!“ Über 20 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote in Sachsen-Anhalt. Da greift eben auch Tierschutz zu kurz. „Es ist eine Frage der sozialen Ungerechtigkeit. Ich kann die Leute gern alle zum Demeterhof schicken.“ Ihr Augen werden groß. „Aber sie können das nicht bezahlen.“ Nachdenken, Stille.
„Ist Leben nur dazu da, die Wirtschaft zu stärken? Darf nicht Leben an sich sein?“, fragt sie und dreht den Ring am Finger, als ob sie zaubern will. Das Leben an sich – für Mensch und Rind, nicht für Verbraucher und Verbrauchte. Aus Argentinien die Steaks, die Blumen vom Kap und Urlaub im Süden – diese Welt flimmert in jede Stube. Die Gegenwelt war zwei Wochen in Mücheln zu Gast, nahm tausend Kühe mit sich und die Illusionen dazu. „Antworten weiß ich darauf auch nicht. Es kann verunsichern und macht traurig, dass man in diese Kette fröhlich reingehört.“ Antworten? „Sündige tapfer“, könnte passen für sie. Der Rat stammt von Luther.
Kühe segnet sie nicht
Sie ist wieder raus aus dem Sessel, kommt mit Wein zurück. Annette-Christine Lenk ist nicht vom Tierschutzbund. „Ich bin nicht hingegangen, um jede Kuh zu segnen.“ Und sie ist auch keine Vegetarierin. Auch nicht jetzt. Einem Tier mag es egal sein, wozu es getötet wird, einem Tierarzt, der die Spritze setzt, nicht. Einer hat gezählt. Sieben Sekunden, dann brach das Tier zusammen. Vorher haben sie es beruhigt, angebunden, am Hals eine Vene gesucht und gespritzt, 50 Milliliter. Ein Schnapsglas voll, und 15 Zentner Leben waren unnützes Fleisch. Den Körper abgehorcht, hinausgezerrrt, der nächste, tausendmal.
„Passen Sie auf, an Ihren Gott glaube ich nicht, doch was hier passiert ist die Apokalypse“, rief einer. „So ein schöner Mensch hat das gesagt. Dem etwas hinzuzufügen, wäre unanständig.“ Sie kippt sich Wein ins Glas. Kein Geschrei, kein Gemetzel, kein Blut – die Offenbarung verlief geräuschlos. Und sie läuterte trotzdem. „Das ist der Preis für unseren Wohlstand. Der Satz kam von fast jedem, der an diesem Werk beteiligt war.“ Nein, von Arbeit kann man nicht reden. „Wenn man noch eine Ahnung von Arbeitsethos hat, verbietet sich das.“ Das wussten wohl auch die Ärzte: „Frau Lenk, wer ist vernünftiger, der Mensch oder das Tier?“, fragte einer im Vorbeigehen, mit der Spritze in der Hand. Kein Requiem, keine Kanzel, keine Kerzen – ein alter Schlachthof, wiederbelebt zum Töten, und Ärzte, die gesunde Tiere ins Jenseits befördern. Und Fragen, die keine Antwort haben, jedenfalls keine gute. Der Arzt gab ihr Zeit, genau eine Kuh, und kam zurück: „Haben Sie eine Antwort?“
„Es stirbt eine Kuh, das ist furchtbar, aber was geht denn in denen kaputt?“ Annette-Christine Lenk schüttelt den Kopf, Zigarette, Rotwein, Füße unter dem Kleid, den Schal gelegt. Ein bisschen Diva, ein bisschen Schnodderschnauze, von beidem nicht zu viel und doch genug, um nicht als Kirchentante durchzugehen. „Das hat keiner gesagt.“ Sie war Frau Lenk, und fertig. „Klar haben wir auch gelacht!“ Sie schlägt mit der Hand auf die Sessellehne, so dass der Ohrschmuck wackelt. „Aber sicher! Anders hält man es doch gar nicht aus. Und beim nächsten Halbsatz wusste man trotzdem nicht, ob nach dem Sinn des Lebens gefragt wird.“ Oder auch: nach dem Sinn des Tötens. „Stimmt es, Frau Lenk, wir wissen nicht, was wir tun“, sagte einer. Wem hätten sie solche Sätze sagen sollen? Dem Bürgermeister? Dem Landrat? Bei anderen hätten sie sich es vielleicht nicht getraut.
Annette-Christine Lenk braucht jetzt Urlaub, eine Woche lang. Nachdem die letzte Kuh eingeschläfert worden war, am Sonntagmorgen, sind alle schnell auseinander. Die Superintendentin hat sich erkundigt, war selbst schon zu Hause, rief den Ortspfarrer an. Ja, der hat auch noch mitgemacht. Schließlich wurde rund um die Uhr getötet. Und Fürbitte gab es auch, gut besucht, Römer acht: Vom Seufzen der Kreatur. Dankesworte? Händeschütteln? Wem soll man danken nach so einer Tätigkeit? Den Ärzten, den Treibern, der Pastorin? „Sie kommen doch wieder“, fragte einer nach den ersten beiden Tagen. Das war’s. „Nächste Woche sind wir auch mit Kühen unterwegs“, erzählten die Fahrer, zur ersten BSE-Tötung in Brandenburg. Annette-Christine Lenk griff zum Hörer, rief den Kollegen an: „Es ist hart, ziehen Sie sich warm an und kaufen Sie Gummistiefel!“
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