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Neuer Trend: Kunst am Beamten

■ Finanzsenator Perschau lässt seine Lehrlinge kreativ schulen – moderne Kunst als Sparringpartner

Rio Reiser wäre neidisch. Was er und seine Brüder Ende der 60er mühsam im besetzten „Bethanien“ versuchten, kommt in Bremen jetzt von ganz oben: Kultur für Azubis. Während sich Reisers Berliner Lehrlingstheater gegen Repressionen behaupten musste, ist die Bremer Azubi-Kultur seit gestern amtlich: Bürgermeister Perschau, die Verwaltungsschule und das Weserburg-Museum schlossen einen „Vertrag über die Förderung der Kreativität in der Verwaltungsausbildung“. Präambel: „Ziel (ist), Kreativität, differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit und Flexibiltät der Aus- und Fortzubildenden zu fördern ... gerade die Gegenwartskunst (hat) das Potenzial, das Erfahren und die Reflexion der Vielschichtigkeit eines Sachverhaltes, der Unterschiedlichkeit verschiedener Wahrnehmungsperspektiven und der Vielzahl von Handlungsoptionen zu unterstützen.“

Kunsthistoriker Detlef Stein macht die Idee plastisch: „Betrachten Sie eine Flasche von vorne, sehen sie einen Kreis – von der Seite her aber einen sich verjüngenden Zylinder.“ Ergo: „Erst die Summe der Perspektiven ergibt ein vollständiges Bild.“ Genauso sei es mit einem Antrag auf Aufenthaltsverlängerung, sekundiert Verwaltungsschullehrer Rainer Kulmann, gemeinsam mit Stein an der Durchführung des ambitionierten Projektes beteiligt. Kulmann: „Es gibt einen Gesetzestext, aber auch die Sicht der Betroffenen. Und dazwischen viel Handlungsspielraum.“ Um den kreativ nutzen zu lernen, gibt es jetzt also das Wahlpflichtfach „Kreativität und Wahrnehmungsfähigkeit“. Und zwar anhand moderner Kunst. Christos Altpapierstapel („Look“, ca. 1964), Gerhard Richters „Eule“, die „Housewife“-Installation von Duane Hanson: Die erste Pilotgruppe hat ihren heilsamen Kunstschock schon hinter sich. 20 zukünftige VerwalterInnen – von denen nur eine zuvor schon ein Kunstmuseum betreten hatte – vertauschten ihr Klassenzimmer mit der Weserburg. „Für einige war das eine ziemliche Zumutung“, erzählt Rainer Kulmann. Oft habe es verbal geknallt, langweilig sei es jedenfalls nie gewesen, sogar sehr produktiv. Offenbar: Denn schon nach drei Tagen drehten die Azubis den Kunstspieß um. Sie bastelten eine Beamten-Installation, mit der sich dann ihre Ausbilder auseinander zu setzen hatten: Ein (tauber) Uniformierter pustet per Megaphon Parapraphen in das Ohr eines (gefesselten) Bürgers. „Wir haben eine Kommunikationsstörung dargestellt“, erzählt Azubi Stephan K. (17). Moderne Kunst hat ihm und den anderen offenbar Spaß gemacht. Stichhaltiges Indiz: Die SchülerInnen haben den geplanten 30 Stunden freiwillig Überstunden angehängt – ob aus denen nochmal richtige Beamten werden? Berechtigte Frage, meint Lehrer Kulmann: „Die werden sich natürlich mit ihren Vorgesetzten reiben.“ „Auch für die besteht kreativer Schulungsbedarf“, pflichtet Perschau bei („die Beiräte sähe ich gern in ähnlichen Maßnahmen“). Viel Arbeit für Kunsthistoriker Detlef Stein. Doch der sagt vergnügt: „Auf diese Art lasse ich mich gerne funktionalisieren.“

Kultur als Kreativ-Futter, als Trainings-Medium für soziale Kompetenzen: Nach „Hipp“, dem Babyfutter-Konzern, BMW und der Drogerie-Kette „dm“, die Theaterpädagogen für ihre Lehrlinge sucht, jetzt also die Bremer Finanzbehörde. Auf Verwaltungsseite ist sie mit ihrem Pilotprojekt bundesweit führend und wurde auf dem 6. Europäischen Verwaltungsreformkongress, der vor kurzem in Bremen tagte, mit neugierigen Fragen überhäuft. Von der Bildbetrachtung zur Deutung eines juristischen Sachverhalts – steuert Bremen auf eine „Waldorf-Verwaltung“ zu? Henning Lühr, Perschaus Personalchef, schüttelt den Kopf – und spottet zugleich wohlwollend: „Bisher hatten wir Kunst am Bau, jetzt die Kunst am Verwaltungsbeamten.“ In zwei Jahren, so Paragraph fünf des Kreativitäts-Vertrages, werden die Ergebnisse evaluiert. Henning Bleyl

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