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Ich bin Craig Venter

Genetisch unterscheiden sich die Menschen fast gar nicht. Die beliebte Suche nach dem Gen für Homosexualität, Kriminalität oder eine bestimmte Rasse hat sich damit erledigt

Die genetische Gleichheit aller Menschenist ein wunderbaresantirassistischesArgument

Am Anfang war das Wort, und die Genetiker sprachen: Es werde Licht. In einem weltweit übertragenen Spektakel wurde nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate die angebliche Entzifferung der „Sprache der menschlichen Gene“ verkündet. Das sei der Höhepunkt von 100.000 Jahren menschlicher Zivilisation, behauptete der gottgleiche Craig Venter. „Wir haben den ersten Entwurf unseres eigenen Lebensbuches, und wir haben es Seite für Seite gelesen“, glaubte sein Konkurrent Francis Collins. Dabei ist genau das Gegenteil passiert: Erst jetzt beginnen die vielen daran beteiligten Forscher und die wenigen Forscherinnen zu ahnen, dass sie eben eines nicht geschafft haben: die „Sprache“ der Gene zu entziffern. Denn es gibt diese Sprache nicht, es gibt auch kein Buch oder Text oder gar eine „heilige Schrift“.

Darauf weist die US- Wissenschaftshistorikerin Lily E. Kay schon seit einiger Zeit hin, ohne dass sich Wissenschaft und Medien davon beeindrucken ließen. Diese Begriffe wären nur dann gerechtfertigt, wenn jeder genetische „Buchstabe“ eine bestimmte unabänderliche Bedeutung hätte und jedes Gen ein bestimmtes unabänderliches Protein produzieren würde. Daran glaubten die Molekularbiologen lange Zeit, aber genau dieses mechanistische Weltbild ist ihnen jetzt zu Trümmern zerfallen.

Die „Entzifferung“ des menschlichen Genoms bot nämlich viele Überraschungen. Die erste war, dass auf dem allergrößten Teil der menschlichen Chromosomenfäden überhaupt keine Gene sitzen. Auf langen Abschnitten fanden die Molekularbiologen nur scheinbar völlig sinnlose Wiederholungen bestimmter Basen. Viele dieser Folgen, die die Wissenschaftler „Junk“ (Trödel, Altmaterial) nannten, entstammen Viren und Bakterien, deren Erbgut im Laufe von Jahrmillionen in das menschliche Erbgut integriert wurde. Daraus folgte die zweite Überraschung: Es gibt viel weniger Menschengene als geglaubt. Mit 32.000 bis 39.000 Genen steht der Mensch nicht viel besser da als der Fadenwurm (18.000) oder das unscheinbare Pflänzchen der Ackerschmalwand (26.000 Gene). Diese wenigen menschlichen Gene aber können – anders als beim Wurm oder einer Fliege – nicht nur ein Protein herstellen, sondern durchschnittlich drei, manche sogar tausende. Das Genom des Menschen besitzt laut Venter die Fähigkeit, etwa 250.000 verschiedene Proteine herzustellen, die ihrerseits rund 100 Billionen verschiedene Verbindungen im Körper eingehen können.

Die alte Rechnung 1 mutiertes Gen = 1 falsches Protein = 1 Erbkrankheit hat damit ein für alle Mal ausgedient. Was wann wie produziert wird, hängt offenbar auch sehr stark von Umwelteinflüssen ab. Das Wechselspiel zwischen Genen, Proteinen, Körperzellen und außerkörperlichen Einflüssen wie Ernährung oder soziale Umwelt eines Lebewesens ist dabei so unglaublich kompliziert, dass die Molekularbiologie dafür überhaupt noch kein Modell hat. Selbst Venter gibt zu, dass die Umwelt eine größere Rolle spielt als angenommen: Das Genom sei nicht die einfache „Gebrauchsanweisung“, die man erwartet habe, „wir sind nicht fest verdrahtet“.

Die dritte Überraschung ist in gewisser Weise ein Beweis der zweiten. Die Wissenschaftler entdeckten nämlich, dass genetisch gesehen sämtliche Menschen auf der Welt zu 99,9 Prozent identische Kopien sind. Nur etwa jedes tausendste Gen ist individuell unterschiedlich ausgeprägt. Ich bin also Craig Venter! Aber ich bin auch Marilyn Monroe! Und Jack the Ripper! Und Angela Merkel! Was für goldene, was für grauenhafte Perspektiven!

Zugegeben: Ich bin es nun irgendwie doch nicht so richtig. Und diese banale Feststellung beweist schlüssiger als jede komplizierte „Vererbung oder Umwelt“-Debatte, dass die Unterschiede zwischen den menschlichen Charakteren halt doch nicht nur ein Produkt unserer Chromosömchen sind. Anfang dieses Jahrhunderts und unter den Nazis zeigte man sich überzeugt, dass allein die Erbanlagen über das menschliche Schicksal entscheiden; in den Sechziger- und Siebzigerjahren wurde fast jede Art und Unart menschlicher Entwicklung Umweltfaktoren zugeschoben; kurz vor der Jahrtausendwende rief man wiederum die „Diktatur der Gene“ aus. Der scheint es historisch nicht anders zu ergehen als der Diktatur des Proletariats: kaum ausgerufen, schon von der Geschichte widerlegt. Nein, wir sind nicht fest verdrahtet. Wir sind aber auch nicht völlig frei, weder genetisch noch sozial.

Die genetische Gleichheit aller menschlichen Brüder und Schwestern ist gleichzeitig ein wunderbares antirassistisches Argument. Was Evolutionsgenetiker wie Luca Cavalli-Sforza und Svante Pääbo schon lange behaupten, wurde durch das Human Genom Projekt nun noch einmal bewiesen: Es gibt keine menschlichen Rassen, es gibt nur die Rasse des Menschen. Haar- und Hautfarben sind höchst oberflächliche Differenzen. Die genetischen Unterschiede zwischen zwei Chinesinnen können größer sein als die, sagen wir, zwischen einem braunhäutigen kolumbianischen Rauschgifthändler und dem Texaner George W. Bush.

Die durch ökonomische Interessen begründete giGENtische Irreführung der Weltöffentlichkeit, man müsse nur die Gene entschlüsseln und könne dann die „Krankmacher“ unter ihnen einfach ausknipsen, hat damit zumindest vorläufig ausgespielt. Manches dumme Gewäsch von unverantwortlichen Wissenschaftlern dürfte sich von selbst erledigt haben. Vor rund acht Jahren glaubte der schwule US- Molekularbiologe Dean Hamer der homosexuellen Gemeinde einen Dienst zu tun, indem er bekannt gab, ein bestimmtes Gen auf dem X-Chromosom sei für die homosexuelle Ausrichtung eines Menschen verantwortlich. Wenig später verdächtigten die US-Fliegenforscher Ward Odenwald und Shang-Ding Zhang eine bestimmte Genmutation, für die Entstehung von Homosexualität bei Taufliegen und Menschen verantwortlich zu sein. Sie hatten nämlich mutierte Fliegenmännchen dabei beobachtet, wie sie sich in Ketten aneinander klammerten, statt sich mit Weibchen zu paaren. Auf diesem Niveau ging es dann jahrelang weiter: Gen für Alkoholismus entdeckt, für Kriminalität, für Schizophrenie, für Dickleibigkeit ... Die Medien seien an diesen Verkürzungen schuld, weisen viele Wissenschaftler jede Schuld von sich. Mag stimmen. Solche Schlagzeilen traten aber allerdings immer wieder dann gehäuft auf, wenn es darum ging, Forschungsgelder zu erlangen oder Biotech-Aktien in die Höhe zu treiben.

Ich bin Craig Venter! Aber auch Marilyn Monroe! Und Jack the Ripper! Und Angela Merkel!

Und nun? Manch ein Genetiker, der sich jetzt noch gottähnlich fühlt, wird noch gezwungen werden, zur wissenschaftlichen Bescheidenheit zurückzukehren. Vielleicht finden ja noch andere so schöne Worte des Staunens wie der in Leipzig forschende Schwede Svante Pääbo: Die neu entdeckte genetische Übereinstimmung zwischen den Menschen und anderen Lebewesen sei „ein Quell der Demut und der Ehrfurcht vor der Natur“.

UTE SCHEUB

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