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Sein Name: Knochen-Krüger

In Husum treffen sich winters die Marathonläufer der ersten Stunde, um über Lauf-Events zu wettern und die Gemeinschaft zu beschwören. Mittendrin: Wolfgang Krüger, ihr tempoharter Held

von MARTIN SONNLEITNER

Wer in den Siebzigerjahren als Langstreckenläufer etwas auf sich hielt, durfte nicht fehlen beim alljährlichen Husumer Wintermarathon, der morgen in seine 28. Runde geht. Selten gibt es Sonne, dafür aber Nebel, Schneetreiben oder Regen.

Während die großen Stadtläufe in der Saison zwischen April und September stattfinden, ist es nichts für Schönwetterläufer, im frostigen Norddeutschland die gut 42 Kilometer zu wetzen. Dem Husumer Lauf haftet noch immer das Stigma einer Zeit an, in der ein Marathon weder Großereignis noch Teil der Spaßgesellschaft war. „Wir waren damals eine eingeschworene Gemeinde“, erinnert sich Wolfgang Krüger.

Der 54-jährige Physiotherapeut lief den Husumer Lauf 1972 zum ersten Mal. Seitdem entwickelte sich der Marathon zum sportlichen Event. Die Läufe von damals unterscheiden sich deutlich von den heutigen Stadtläufen in Hamburg oder Berlin. Waren es in den Siebzigern selten mehr als 200 Läufer – das Wort Joggen existierte nicht –, tummeln sich heute Zigtausende zwischen Start und Zieleinlauf. Doch nicht dies allein ist für einen Wandel der Läufe verantwortlich. Der Göttinger Sporthistoriker Arnd Krüger konstatiert: „Die Freigabe der Amateurbestimmung 1981 führte zur Wende. In den Siebzigern sprach man von Erwerbschance, die Läufer konnten ein wenig zusätzlich verdienen. Heute ist bei Spitzenathleten von Versorgungschancen die Rede. Einige haben nach ihrer Laufbahn ausgesorgt.“ Leistungsdruck und Vereinzelung nähmen zu, so Krüger.

Sein Namensvetter Wolfgang Krüger pflichtet dem bei. „Als ich 1984 in Berlin Zweiter wurde, gab es 7.000 Mark. Das war der Anfang einer Entwicklung. In den Achtzigern hat sich das Laufen drastisch individualisiert. Bei meinen ersten Marathons in Husum waren wir mit Leib und Seele Sportskumpane; haben uns gegenseitig Tipps gegeben, wie man die Füße pflegt, und haben hinterher ein Bier getrunken. Heute ist man als Sportler einsam geworden“, sagt der einstige Spitzenläufer, der etliche deutsche Meistertitel über die Mittel- und Langstrecke einheimste.

1992 gab es laut Arnd Krüger die nächste Trendwende. „Bei Olympia in Barcelona fanden die ersten EPO-Wettkämpfe statt“. Das habe den Wettkampfsport drastisch revolutioniert. Konnten die Läufer ihrem Organismus früher nur wenige Marathon-Starts pro Jahr zumuten, war mit EPO mehr drin. Die Belastungsgrenze stieg durch das Doping um etwa 7 Prozent. Die Spitzenathleten absolvierten eine größere Anzahl von Läufen, gleichzeitig gab es bei den City-Marathons eine stärkere Beteiligung von Topleuten.

Zeichnet man diese Aussagen entlang der Geschichte des Berlin-Marathons nach, behält Krüger Recht. Aus dem Volkslauf im Grunewald, der seit 1974 stattfand, wurde 1981 ein Stadtmarathon mit internationaler Beteiligung. Die Teilnehmerzahl wuchs von 244 auf 3.486. 1990 gab es nach dem Mauerfall erneut einen Sprung auf 25.000. Im letzten Jahr konnten die Organisatoren dann 34.000 Läuferinnen und Läufer verbuchen.

Wolfgang Krüger folgte noch anderen Maximen. „Ich wollte nie Erster im Windschatten werden. Es war eine Auseinandersetzung mit mir selber, das Letzte aus mir rauszuholen“, berichtet der alte Läuferrecke. Krüger, der insgesamt 20 Länderkämpfe für Deutschland bestritt, galt als hart, ja brutal gegen sich selbst, was ihm in der Szene einige Bewunderung und den Spitznamen „Knochen-Krüger“ einbrachte.

Bei einem Trainingspensum von bis zu 250 Kilometern die Woche wog der sehnige Krüger, 1 Meter 80 groß, unter 60 Kilogramm. Er sei der Typ gewesen, erinnert sich ein ehemaliger Laufkumpan, der eine Psyche für drei Körper hat. Der Lübecker, 1976 Sieger in Husum, wurde 1986 mit 39 Jahren Deutscher Marathonmeister. 2:11,54 war seine Bestzeit: Weltklasse vor besagtem Paradigmenwechsel Anfang der Neunziger.

In Husum trifft sich noch immer Jahr für Jahr eine eingeschworene Gemeinde. Bei norddeutschem Frischwind geht es dann über die Dörfer. Man rechne mit 7.000 Mark Einnahmen, erzählt Organisator Kai-Uwe Schmidt, das Ganze sei kostendeckend. Hinterher gibt es dann ein gemeinsames Labskausessen. In Berlin geht es im Vergleich um Millionenbeträge, allein der Sieger erhält 50.000 Mark. Selbst der Lauf an sich ist käuflich und heißt jetzt „real-Berlin-Marathon“. Sponsoren machen es möglich.

Die besseren Geschichten haben die Husumer zu erzählen. Als anno 1979 die Republik zugeschneit war und auf den Halligen zwei Meter hoch Schnee lag, musste der Husum-Marathon das einzige Mal in seiner Geschichte abgesagt werden. Es bleibt zu vermuten, dass Wolfgang Krüger, der nach eigenem Bekunden heute kein Leistungssportler mehr sein möchte, damals gemeldet hatte und missgestimmt war. Er wäre trotz Schneekatastrophe gelaufen.

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