: Das Gegengift
Der poetische, politische und reale HipHop hat einen neuen, sendungsstarken Ideologen: Den amerikanischen Spoken-Word-Künstler, Schauspieler und Consciousness-Rapper Saul Williams
von HOLGER IN’T VELDT
Bob Marley, Linton Kwesi Johnson, Martin Luther King, Malcolm X, Chuck D und KRS-One haben ein gemeinsames Kind geboren. Wie so oft sind wir, die Bleichgesichter der westlichen Welt, dabei zunächst nur Zaungäste. Das allererste Wort von Saul Williams’ Debüt „Amethyst Rock Star“ lautet „Nigger“ und verwandelt die Mehrzahl seiner Hörer von Anfang an in Außenstehende. „Es gibt zwei große Themen, die auf dieser Platte verhandelt werden“, erklärt Williams im Interview. „Das dringlichere ist der abgefuckte Scheiß, der gerade im HipHop passiert. Deswegen diese direkte Adressierung am Anfang.“
Sein weniger dringliches Thema ist ein spirituelles. Es geht darum, den Kontakt mit seinem Geist herzustellen. Darum, „dass du deine Stimme findest, dir deiner Kraft als selbstständig denkendes Individuum bewusst wirst. Aber bevor wir über dieses süße New-Age-Zeug reden, muss ich noch ein paar Sachen klarstellen. Damit du den Virus aus deinem System kriegst, bevor wir uns an einen Tisch setzen. Damit sich niemand ansteckt.“
Denn natürlich sind auch „wir“ adressiert. Schließlich ist Saul Williams gerade in Deutschland, und auch hier werden seine HipHop-Referenzen verstanden, was heißt, „dass auch ihr Gift in euer System bekommen habt. Und das gilt für die halbe Welt, denn HipHop ist lauter als Rock ’n’ Roll jemals war. Die Anlagen sind besser, die Boxen sind größer, und Klangvibrationen haben eine Auswirkung auf die Wirklichkeit, das Bewusstsein und das Unterbewusstsein.“
Die Macht der Sprache
Saul Williams ist ein Intellektueller. Er hat Kunst und Schauspiel studiert. Auch ohne diese CD ist sein bisheriges 29-jähriges Leben eine künstlerische Erfolgsgeschichte. Das erste schauspielerische Engagement hatte er in dem 98er-Film „Slam“, wo er in der Hauptrolle einen kleinen Straßenpoeten und Marihuana-Dealer spielt, der lernt, sich mit Worten über Gewalt zu behaupten. Der Film ist für Independent-Verhältnisse ein sensationeller Erfolg, hat den großen Preis der Jury beim Sundance-Festival sowie die Goldene Kamera für den besten Debütfilm in Cannes bekommen und wird in der intellektuellen HipHop-Szene bereits mit dem mythischen Gründerfilm „Wild Style“ auf einer Stufe verhandelt. Allesamt Auszeichnungen, die sich auch Saul Williams als Protagonist dieses Films an die Brust heften kann. Der, könnte man nun einwerfen, spielt allerdings auch eine (kleinkriminelle) Variante von sich selbst: einen Dope-dealenden Straßenpoeten, der im Gefängnis lernt, wie mächtig Sprache sein kann, indem er damit tatsächlich über körperliche Gewalt siegt.
Wie um zu demonstrieren, dass dies auch im Pop-Business funktioniert, transportiert Williams, der seit 1995 Slam-Poetry-Preise sammelt, seine politische Poesie nun auch via Tonträger. Und dies nach einigen Underground-Singles im großen Stil, denn „mir geht es darum, schnellstmöglich viele Leute zu erreichen“. Dazu hat Williams sich aus „hunderten von Angeboten“ für das Attraktivste entschieden: einen Vertrag mit der zum weltweiten Sony Music-Netzwerk gehörenden Plattenfirma Def American, deren Betreiber Rick Rubin Mitte der 80er bis Anfang der 90er die zentrale Figur der US-Popkultur war.
Damals hatte er das Label Def Jam aus der Taufe gehoben und als Mentor und Produzent u. a. die ersten bzw. wichtigsten Alben von den Beastie Boys, Public Enemy und Slayer betreut. Wo sich Williams verortet, ist klar. „I was raised on Public Enemy and Cornflakes“, rappt er. Rappt? Ja, auch das kann der Poet. „Amethyst Rock Star“ ist keine der altbekannten, mit Reggae oder Standard-Beats unterlegten, stimmlich nur geringfügig modulierten Spoken-Word-Platten. Sie ist ein hoch energetisches Zusammenspiel aus Inhalt und Musik, eine einstündige Aufforderung zu hundertprozentiger Aufmerksamkeit. Slavoj Žižek zusammen mit Public Enemy und Jimi Hendrix. Oder abstrakter gesagt: intensive, ebenso aggressive wie sentimentale Musik im Zusammenspiel mit einer Stimme, die, auch ohne dass man ein Wort versteht, in jeder Sekunde davon kündet, dass jedes Wort zählt. Dass hier Überzeugung, Passion, wenn nicht gar Erleuchtung am Werk ist.
Diese Intensität macht süchtig. Live umso mehr. „Danach geht erst mal gar nichts mehr. Weil ich jetzt von jedem weiteren Künstler erst mal sein Manifest hören will, weil ich plötzlich Musik um des Unterhaltungswillens nicht mehr ertragen kann, [...] weil Mittelmäßigkeit nach so einem Auftritt einfach schmerzt“, fasst Annett Busch in der Spex die Symptome zusammen. Williams füllt den Raum/Kopf mit Worten, Bedeutung und Energie, mit einem Gefühl von Unmittelbarkeit und Dringlichkeit, das sprachlos macht. Nach dem Hören der Platte und noch mehr nach einem Auftritt von ihm sind keine Worte mehr da. Denn er hat sie alle benutzt, kaum eines wiederholt. Und dabei keinesfalls das Publikum vergessen.
Progressives Mehr
„Wer sich nicht in mir sehen kann, soll bitte den Raum verlassen“, fordert er von der kleinen Gruppe bei seinem bisher einzigen Deutschlandauftritt im Kölner Studio 672. Niemand geht. Genauso wenig wie ein/e Weisse/r, der/die einigermaßen bei Sinnen ist, öffentlich erklären würde, dass das Wort „Nigger“ generell verboten werden sollte. Und Williams, der gewiss nur wenige Dinge unbewusst tut, hat dieses erste Wort, das die schräg-schöne Violinenmelodie stört, sehr bewusst gewählt. Er weiß ganz genau, mit wem er sprechen will: mit HipHop bzw denjenigen, die sich für dessen Manifestationen halten. „Selbsthass, Sexismus und das Fehlen einer Perspektive drohen die Bedeutung von HipHop zu marginalisieren“, schreibt ein US-Rezensent in seiner Kritik von „Amethyst Rock Star“ und schließt: „HipHop mag sich nicht im Klaren darüber sein, dass es einen Retter braucht. Aber Saul Williams ist trotzdem da.“
„Ich bin der festen Überzeugung, dass HipHop das Bewusstsein oder besser das Unterbewusste der Leute vergiftet“, sagt Williams. „Und die, die vergiftet werden, sind in erster Linie meine Leute. Leute, mit denen ich aufgewachsen bin. Leute, an denen mir etwas liegt. Was nicht heißen soll, dass mir alle anderen egal sind. Aber die anderen Leute hören auch Musik, wo es inhaltlich um mehr geht als Waffen, Drogen, Bumsen und Klamotten. Es gibt eine ganze Community, die ausschließlich Musik hört, die, was eine Perspektive angeht, so eng geworden ist, dass man sie nur als Gift bezeichnen kann. Für mich ist es so, als hätten sie HipHop genommen und alles Gute rausgefiltert. Jetzt ist es reines, pures Gift. Ungeschnittenes Coke. Woom. Du kriegst deinen Kick, aber es zerstört deinen Körper – beziehungsweise in diesem Fall deinen Geist.“
Der HipHop sind wir
Das Herumhacken – szenesprachlich „Dissen“ – auf jenem „sie“, den anderen, ist eine HipHop-immanente Praxis. Im Gegensatz zum Gros der Rapper, welche ebenso bereitwillig ihre Einzigartigkeit durch ein offensives Abgrenzen von einem mehr oder minder konkreten größeren Ganzen definiert, hat Williams jedoch ein positiv-progressives Mehr anzubieten: poetisches, künstlerisches, intellektuelles, religiöses und soziokulturelles Wissen in gleichzeitiger Darreichung, verstärkt von Musik, die HipHop in Richtung Rock, Klassik und Breakbeats erweitert. „Die Leute, die nur kommerziellen HipHop hören, werden Probleme mit meiner Platte haben“, sagt er. Das ist eine Untertreibung. 99 Prozent aller Menschen, nämlich all jene, die Musik hauptsächlich als Unterhaltung hören, werden damit Probleme haben. Sei es musikalisch oder inhaltlich: Saul Williams legt die Latte hoch. Zu hoch für „seine Leute“. Divine Styler, ein befreundeter HipHop-Avantgardist, klagt, dass so gut wie keine „echten“ HipHopper zu seinen Shows kommen. Sein Publikum ist ein gemischtes, das sich im wesentlichen aus College-Kids definiert. Saul Williams nickt. „Ja“, sagt er, „weiße Kids mit Dreadlocks. Aber was mir hilft, ist künstlerische Glaubwürdigkeit – ein sehr wichtiges Wort im Sony-Empire. Ich komme aus dem Underground – HipHop, Poetry-Slam, dann der Film – all das gibt mir Credibility bei einem schwarzen Publikum.“
Für dieses, gegen das „Gift“, ist „Coded Language“ – ein Text, den er in drei Stunden im Flugzeug geschrieben hat, ausgelöst durch das Radioprogramm auf dem Weg zum Flughafen. „Ich musste nur wütend genug sein“, sagt er, „sie haben einfach einen Mörder-HipHop-Song zu viel gespielt.“ Seine Wut, abgefeuert über sirenenhaftem Drum & Bass, liest sich wie folgt: „Statements such as ,keep it real‘, especially when punctuating or anticipating modes of ultra-violence, inflicted psychologically or physically or depicting an unchanging rule of events, will henceforth be seen as retro-active and not representative of the individually determined. Furthermore, as determined by the collective consciousness of this state of being and the lessened distance between thought patterns and their secular manifestations, the role of men as listening recepticles is to be increased by a number no less than 70 percent of the current enlisted as vocal aggressors.“
Breakbeats für Gott
Das darauffolgende Stück „Our Father“ präsentiert sogleich die Alternative. Als Erstes zu hören ist Williams Vater, ein Priester, der über die Notwendigkeit einer väterlichen Leitfigur doziert. Mit einsetzendem – gebrochenem – Rhythmus übernimmt der Sohn, stellt klar, dass diese Vaterfigur in der afroamerikanischen Gesellschaft de fakto nicht vorhanden ist, und ersetzt den zur Hilfe gerufenen Gott durch eine Göttin, der er zugleich ein Geschenk überreicht: „Dear Goddess, we created this breakbeat just for you, as an offering. Can you hear us now?“ Dieses „uns“ ist HipHop, den seiner Überzeugung nach nur eine weibliche Energie retten kann.
Was das angeht, so weiß sich Saul Williams in guter Begleitung. Sein Umfeld reicht vom experimentellen Underground des Anti-Pop Consortium über die politischen Rapper Mos Def und Common bis zum soulig-süßen Mainstream von Erykah Badu und Lauryn Hill – allesamt Alternativen zur (noch) vorherrschenden Gangster-Realness. „Ich mag auch nette, leichte Dinge“, schließt Williams, „Es muss nicht alles kämpferisch und kulturell bewusst sein. Es gibt Zeit und Ort für alles.“ Aber erst einmal muss das Gift weg.
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