: Mein lieber Schwan!
Seit fast einem Jahr hat Bayern sein ganz spezielles Musical. In „Ludwig II.“ kristallisiert sich die Sehnsucht nach dem Erhabenen inmitten der armselig banalen Welt: Ein grandios ausstaffiertes Kitschspektakel und ein Segen für Füssens Fremdenverkehr
von FRANZ LERCHENMÜLLER
Da geht er hin, umtost von musikalischem Gewitter. Drei Schritte vorwärts, schon umspielen die Wellen seine Knie. Zwei weitere – das Wasser reicht ihm bis zu den Hüften. Noch singt er: „Ein Rätsel wird auf ewig euch verbergen, wer ich bin.“ Die Ufer des Sees verschwimmen in nebligem Blau, ein einsames Schilfbüschel spiegelt sich auf der Oberfläche. Dann geht er weiter. Er ertränkt sich, an diesem 13. Juni 1886, mit aller gebotenen Würde: Ludwig II., König von Bayern. Und das Abend für Abend, außer Montag, seit dem 7. April 2000.
Anders als damals aber stirbt Ludwig nicht für sich allein, sondern unter den leuchtenden Augen von fast 1.400 ZuschauerInnen. Er stapft auch nicht in den sumpfigen Untergrund des Starnberger Sees, sondern ins handwarme Wasser eines Neunzigtausend-Liter-Beckens. Und er segnet das Zeitliche nicht unter freiem Himmel, sondern auf der Bühne eines nagelneuen, neoklassizistisch angehauchten Theaters, das die Architektin Josephine Barbarino zwei Kilometer außerhalb der Stadt Füssen direkt an den Forggensee gesetzt hat – „Ludwigs viertes Schloss“ nennt sie den Bau in aller Bescheidenheit. Für das, was sich hinter seinen Beton- und Glasfassaden abspielt, ist ihr Mann Stephan verantwortlich. Der hatte vor sieben Jahren eine Idee, suchte sich die richtigen Leute, sammelte 88 Millionen Mark ein und schrieb den Text zu einem Musical: „Ludwig II. – Sehnsucht nach dem Paradies“.
Der Märchenkönig. Der Schöngeist. Der Wirrkopf. Da draußen, das östliche Allgäu – das ist sein Land. Hier, in Sichtweite über dem See, den es damals freilich noch nicht gab, ließ er sein zierliches Neuschwanstein-Schloss errichten. Hierher flüchtete er, in die Stille und die glanzvolle Selbstinszenierung, wenn ihn das Hofleben in München wieder einmal anekelte. Und also ist „Ludwig II.“ das einzige Musical in Deutschland, von dem mit Fug und Recht behauptet werden darf, dass es am Originalschauplatz spielt. Doch halt – so schnell wird auch in Füssen nicht gestorben. Natürlich geht dem königlichen Ableben allerlei Ludwigslust und Ludwigsleid voraus, drei Stunden pralles Bühnenleben, um genau zu sein.
Gerade erst ist Maximilian verschieden, der Vater, und jetzt muss Ludwig auf den Thron. Fesch schaut er aus, der Achtzehnjährige, mit seiner Dauerwelle und der blauen Uniform mit der roten Schärpe und den goldenen Epauletten. Regieren soll er jetzt. Krieg führen. Und heiraten auch, jo freili. Bloß: Regieren mag er net. Die Sissi von Österreich heiraten darf er net. Ihre Schwester Sophie will er net. Ihn zieht es zur Kunst, drei Nymphen flüstern ihm, dass er genau dafür geboren sei.
Und wie den König die Nymphen mit ihren Beschwörungen, so umgarnen und locken die Theatermacher ihr Publikum mit Bildern. Da öffnen sich riesige, blaue Hallen, ein Trauerzug marschiert durch die Laterna magica, rot glüht der Gral vor dem eisigen Panorama des Himalaja. Walzernde Paare wirbeln durch trügerische Spiegelwelten, Trockeneisnebel wallt wie Wassergischt durch die Pöllatschlucht. Und dann sitzt Ludwig allein im Theater in einem Stück des bewunderten Wagner und verfolgt, wie Siegfried den Drachen erschlägt – während das Publikum von der Rückseite her den Bühnenarbeitern zusieht, die das hölzerne Untier bewegen: ein Kabinettstückchen.
Eine optische Schwelgerei veranstaltet Bühnenbildner Heinz Hauser da vorn auf Deutschlands zweitgrößter Drehbühne: 29 Hingucker, 29-mal ein anderes Spiel aus Farben, Licht, Raum und Requisiten – so viel bunt geträumter, prächtig ausstaffierter Kitsch, überwältigend bis zum Dahinschmelzen. Oder zum Erbrechen – wenn da die Musik nicht wäre. Franz Hummel, in Avantgardekreisen hoch geschätzter Komponist, verordnet sie den Bildern als Gegengift. Stets eine Spur zu schrill, zu schräg, zu laut, verhindert sie, dass die Zuschauer sich im Geschehen gefühlsselig einrichten.
Nach und nach füllt sich die Bühne mit Personal: Minister intrigieren, Fotograf und Sophie poussieren, Richard Wagner reist an, und Bismarck macht seine Aufwartung. Und ganz allmählich nimmt da vorn auch ein Charakter erste Züge an: Diesem etwas entrückten, blutleeren und doch sehr eigensinnigen Jungen mit dem Wella-Schopf ist der fünf Meter lange blaue Königsmantel mit dem Hermelinbesatz viel zu groß. Viel zu schwer. Viel zu drückend.
Viel zu früh kommt nach achtzig Minuten die Pause. Lodenjoppen, Leinenhemden und Lederhosen drängen hinaus, aber auch kleine Schwarze und Cargopants in Khaki, ein Querschnitt durch die Boutiquen und Versandhauskataloge dieses Landes. Der Saal ist voll, und wenn die Auslastung so weitergeht – letzten Sommer waren Karten nur schwer zu bekommen –, schreibt die „Ludwig Musical AG & CO.Betriebs-KG“ tatsächlich nach fünf Jahren schwarze Zahlen. „Scho schee is“, lautet der allgemeine Tenor. Wenn bloß die Musik net wär! Doch jetzt wird erst mal gespeist und gespachtelt, das Dreigängemenü mit „Schwanensee im Nebel“, einem „mit Schokoladenmousse gefüllten Brandteigschwan auf Blue-Curaçao-Soße“. Oder einfach Leberkäs und ein „König Ludwig Dunkel“ in der Bierwirtschaft.
150 Meter lang zieht sich die Glasfront des Foyers durch das ovale Hauptgebäude und die beiden Seitenflügel. Türen führen in den Barockgarten, wo Blechsilhouetten von Bühnenfiguren paradieren. Da drüben, viel kleiner als erwartet, leuchtet Neuschwanstein golden aus dem Fels. Und spiegelt sich – nein, leider wird der Forggensee, ein Überlaufbecken für das Schmelzwasser des Lechs, im Winter abgelassen. Statt schwarz glänzender Fläche nur ein graues Kiesbett; ein Schwan– Wappentier des Hauses – jagt einen Nebenbuhler von Pfütze zu Pfütze. Seinesgleichen haben sie allüberall verbraten: als Türklinke und am Treppengeländer, auf dem blauen Samtvorhang und im Zellophanbeutel, für zwei Mark neunzig gibt es Schwan bunt, aus Weingummi.
Es klingelt zur zweiten Hälfte, und nun greifen sie in die Vollen. Ludwig im Schlitten, gezogen von zwei Schimmeln, die übers Laufband traben. Der König im Ballon, während unter ihm die Pyramiden und die Freiheitsstatue vorbeiziehen. Ludwig im Märchenwald, Sissi auf dem Einhorn. „Einmal möchte ich dich so betören, dass nur ich deine Kunst für dich bin.“
Von Bild zu Bild wirkt Ludwig derangierter. Die Welt entzieht sich ihm, und er kommt ihr abhanden. Statt Uniform trägt er schwarzen Anzug, im Maurischen Pavillon nuckelt er an der Haschischpfeife, junge Männer mit Lederhose und nackerter Brust steppen über die Bühne, der Kini spielt Haschen und hat seine Freud’ – ja ist ihnen denn nichts heilig, dürfen die das wirklich: den Patron Bavariae als kiffendes, schwules Bürscherl vorführen, eine Mischung aus Groucho Marx und Charlie Chaplin?
Nein, eigentlich dürfen die das nicht, und der Landesvater, las man denn auch nach der Premiere, war alles andere als „amused“. Aber die Hummels und Barbarinos kümmert das nicht. Sie haben einfach keinen Respekt – außer vor dem Menschen Ludwig, der, in Zwängen gefangen, nie zu sich selbst finden konnte. Und schaffen es so, der Faszination nachzuspüren, die von dem jungen Monarchen ausging: In so manchen Allgäuer Familien ist noch heute von einem Urgroßvater die Rede, dem es sonntags kaum zu den vierzig Pfennig für die Halbe reichte. Über den Kini aber ließ er nichts kommen. Dessen Schlösser waren nicht etwa verpulvertes Geld. Sondern „oifach schee“. Die Sehnsucht nach dem Erhabenen inmitten der Armseligkeit der Welt – in der Person Ludwigs II. kristallisierte sie.
Für die Stadt Füssen ist das Musical „ein Segen“, schwört Fremdenverkehrschef Gottfried Linke. Abgesehen von den Anwohnern, die sich über den Verkehr ärgern, will eigentlich keiner mehr so richtig dagegen sein. Immerhin: Dreihundert Arbeitsplätze bietet das Theater, etwa dreihundert weitere entstanden in den Gasthöfen und Hotels. Die Übernachtungszahlen stiegen innerhalb eines Jahres um zehn Prozent, viele Restaurants präsentieren ihre Speisekarte mittlerweile viersprachig. Durch Füssen zieht ein Hauch von Welt – aber den Füssener an sich kann das nur bedingt beeindrucken: Mittags bleiben die Geschäfte in der Fußgängerzone nach wie vor konsequent geschlossen.
Finale furioso, das bittersüße Ende von all den Liedern. Ludwig ist drin. Kurz kräuselt sich das Wasser noch. Plötzlich rauschen vier Pferde daraus empor, Fontänen schießen hoch, der Brunnen von Schloss Linderhof steigt aus der Tiefe – der König ging, es bleiben seine Stein gewordenen Fantasien. Ein letztes Mal hält die Musik dagegen – nun ja, eigentlich schmachtet sie jetzt eher mit, die Portion Kitsch sei dem Volk für den Heimweg gegönnt. Verhallt ist Ludwigs letzter Satz: „In der Schönheit liegt der Glanz des Wahren.“ Und am See tanzen die Nymphen ein letztes Mal.
Informationen: Karten von 85 bis 230 Mark. Reservierungen: (0 18 05) 58 39 44Internet: www.ludwigmusical.comFRANZ LERCHENMÜLLER ist freier Reisejournalist und lebt in Lübeck. Zuletzt erschien von ihm „Zwischen Küste und Küste. Erlebnis Reisen in Norddeutschland“. Rotbuch 2000,146 Seiten, 28 Mark
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