: Lücken in der Welt
Elegant unentschieden zwischen Realität und Wahn gewandelt: Marc Lüders' Photopicturen in der Kunsthalle ■ Von Petra Schellen
War da was? War da nix? „Dies ist kein Apfel“, schrieb einst der Surrealist René Magritte unter ein Apfel-Gemälde. „Hier ist keine Drossel“, könnte man unter das entsprechende Vogelbild von Marc Lüders schreiben, das derzeit – in der Reihe Standpunkte – im Kabinett der Kunsthalle zu sehen ist: Vorher und Nachher, leerer Tisch und Tisch mit Vogel, pure und bemalte Fotos sind da nebeneinander gehängt. Auch den Schatten hat Lüders vorsichtshalber hinzugefügt, um deutlich zu machen, dass er sich nicht im Bereich der Abstraktion bewegt.
„Ich will nicht verbergen, dass ich die Bilder verändere“, sagt der 37-jährige ehemalige Kunsthaus-Stipendiat, der Fotoabzüge bemalt und der abgelichteten Wirklichkeit weitere Ingredienzien hinzufügt, die akkurat in die vorgefundene Bildrealität passen: Ein meteoritenartiger Steinbrocken fällt – auf drei nebeneinander gehängten Fotos – zum Beispiel vor einem fotografierten Gerhard-Richter-Gemälde zu Boden. Und fast wirkt es, als bestünde das schwebende Objekt aus verdichteter Farbe, als sei es aus dem Gemälde herausgesprungen. Munter hüpft es auf und ab, um sich ein bisschen lustig zu machen über das Bild, dem es vielleicht entstammt, mit dem es aber nicht die Erdenschwere teilt.
Auf dem Grat zwischen der Realität und Bild vermischenden, augentäuschenden „Trompe l'oeil“-Malerei des Barock und Verfremdung der Moderne wandelt Lüders, der 1987 mit einer ebenfalls im Kabinett ausgestellten Kuh begann, sie auf eine fotografierte Wiese malte und ihr gleich einen Schatten dazugab. Täuschen will der Künstler das Publikum aber keineswegs: „Es soll immer noch deutlich sein, dass ich hier Malerei betreibe“, sagt Lüders, der subtil die Frage nach Realität, nach Sein und Nichtsein stellt, ohne sich auf die surreale oder die fotorealistische Seite zu schlagen.
Nur auf den ersten Blick authentisch wirkt zum Beispiel der nachträglich mit Grün unterlegte Fotowald. Denn bei näherem Hinsehen irritiert das ewig gleiche Grasgrün, und man ahnt die Manipulation. Eine bizarre Neudefinition von Stillleben, Experimente mit Vergänglichkeit, die ohne Apfelgehäuse und Morbid-Käfer auskommen, praktiziert Lüders: zum Beispiel, wenn er die rissige Ölfarbe einer Stillleben-Tischdecke des Niederländers Claes Wilhelm Heda (1650) zum erodierten Bodenprofil vergrößert und ein weißes Knäuel daraufsetzt, das im Irgendwo schwebt, als wisse es nicht recht, wohin mit sich. Vielleicht ist es auch schon in die Schwerelosigkeit abgedriftet.
Den Raum neu zu ertasten versucht Lüders mit seinen meist schwarzweißen Bildern, auf denen er Gemälden der Vergangenheit die Schatten der Gegenwart hinzufügt, ohne dass es übermäßig auffiele. Ein bisschen lustig macht er sich auch über unser ewiges Deutungsstreben, etwa in der Serie mit den gepressten Köpfen, die als Ahnengalerie nebeneinander hängen: Als habe man Barbie oder Ken den Kopf abgedreht und verkehrt herum wieder aufgesetzt, wirken die Männer, die einen mit stierhaft gedrungener Stirn ansehen, als bräche gleich die Decke über ihnen zusammen.
Im stumpfen Winkel auf den Rumpf gerammt scheinen die Köpfe – und wenn man nicht erklärt bekommen hätte, dass die Modelle kopfüber an einer Turnhallendecke hängend fotografiert wurden, hätte man wohl niemals begriffen, wie der geduckte Affenblick zustande kam, da Lüders Proportionen und Perspektive ähnlich süffisant verschiebt, wie es um 1535 der Manierist Parmigianino bei seiner Madonna mit dem langen Hals tat. Als wären sie in eine zu enge Welt hineingeworfen und gleich wieder abgestoßen, sehen sie aus – Menschen, die sich aufdringlich ins Universum hineinhängen, das auch gut ohne sie auskäme.
Und dann ist da noch das Foto vom Arte-Povera-Saal (alle verwendeten Gemälde wurden übrigens in der Kunsthalle fotografiert), in das Lüders ein wolleweiches Objekt hineinmontiert hat. Und wieder ist das hinzugefügte Teil so unmerklich in die Realität geglitten, dass es, wieder entfernt, eine klare Lücke hinterließe. Vielleicht hat der Künstler durch solche Experimente mit den Lücken, die die Wirklichkeit lässt, ein elementares Gesetz auch der Naturwissenschaften umgesetzt: dass sich die Ordnung der Dinge im Raum ständig neu bildet, sich aneinander und am Vorhandenen ausrichtet und sowohl weitere Objekte aufnehmen als auch Verluste ausgleichen kann, ohne an Rhythmus zu verlieren.
Marc Lüders – Photopicturen. Bis 22. April, Kunsthalle
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