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Den Haag kriegt sie alle

Statt zu debattieren, wo Milošević angeklagt werden soll, sollten erst einmal Beweise gegen den jugoslawischen Exstaatschef gesammelt werden. Der Rest wird sich ergeben

Wie eine Kette legt sich eine lange Reihe unglaublicher Skandale um Milošević und seine Nomenklatura

Carla Del Ponte war schlecht gelaunt, als sie Belgrad Ende Januar verließ. Zum Abschluss ihres Besuchs in Jugoslawien hatte Präsident Vojislav Koštunica die Vorsitzende des UN-Kriegsverbrechertribunals mit langen historischen Erläuterungen gelangweilt – und sich gleichzeitig standfest geweigert, auch nur den Anschein einer Zusage zu einer Zusammenarbeit mit dem Gericht zu erwecken. In einer Pressekonferenz vor dem Abflug hatte Del Ponte versucht, mit vagen Drohungen, mit „Sanktionen“, „Stichtagen“ und einem Verweis auf den UN-Sicherheitsrat zu kontern. Die New York Times peppte diese Andeutungen bis zu der Behauptung auf, die Verhaftung des jugoslawischen Expräsidenten Slobodan Milošević stehe unmittelbar bevor – sonst würden der US-Kongress und die Bush-Administration irgendetwas Schreckliches tun.

So wurde eine typische Nichtgeschichte kreiert, die einige Dutzend Auslandskorrespondenten bewog, nach Belgrad zu eilen. Dort sitzen sie nun, schreiben Reportagen zu anderen Themen und versuchen ihre Redaktion zu Hause davon zu überzeugen, dass das große Ereignis weiterhin unmittelbar bevorstehe. Der erste angeblich sichere Termin war der 10. Februar, der zweite, wahrscheinlich ebenso falsche, ist der 31. März. Derweil haben sich zwei unterschiedliche Schulen unter Politikern und Beobachtern herausgebildet, die sich in zwei wichtigen Fragen unterscheiden: Wo und wofür soll Milošević angeklagt werden?

Beide Fragen sind eng miteinander verbunden. Will man Milošević wegen Steuerhinterziehung, fragwürdigen Grundstücksgeschäften und illegalem Waffenbesitz – den Delikten, die man ihm bisher beweisen kann – verklagen, dann kann man das auch in Belgrad tun, so die zentrale These der pragmatischen Schule. Will man den Expräsidenten dagegen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und die Zerstörung der Wirtschaft, des Staates, der Kultur und der Gesellschaft Serbiens vor Gericht bringen, dann ist Den Haag der einzig richtige Verhandlungsort – so die Sicht der moralische Schule.

Pragmatiker meinen, Milošević habe vor allem seinen eigenen Leuten geschadet: den Serben und Jugoslawen. Daher sollte er auch von diesen gerichtet werden. Sie fügen hinzu, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis weitere Verfahren folgen würden, da der ehemalige starke Mann hinter Gittern nicht mehr die Möglichkeit hätte, Zeugen zu beeinflussen, um weitere Anklagen zu verhindern. Zudem würde die serbische Bereitschaft steigen, Milošević am Ende doch an das UN-Tribunal auszuliefern, wenn dieser im Lande selbst öffentlich als einfacher Krimineller vorgeführt würde.

Die Moralisten wiederum weisen darauf hin, dass Jugoslawien einer der Unterzeichnerstaaten des Friedensvertrages von Dayton ist, in dem das Den Haager Tribunal ausdrücklich unterstützt wird. Sie fügen hinzu, dass Milošević persönlich das Dokument unterschrieben habe, und fragen dann süffisant, wo denn das Problem bei seiner Verhaftung läge.

Der streckenweise scherzhafte Ton in der Diskussion zeigt, dass beide Schulen wichtige Aspekte vernachlässigen. Bevor Milošević angeklagt werden kann, muss zuerst einmal genügend Belastungsmaterial gefunden und einem Gericht zur Prüfung vorgelegt werden. Diese Aufgabe wird die Staatsanwaltschaft vor einige Schwierigkeiten stellen – und der Expräsident wird sehr gute Verteidiger haben. Angesichts dessen würde es Sinn machen, Beweise zu sammeln, anstatt wertvolle Zeit mit akademischen Debatten zu verschenken.

Tatsächlich ist es schwer, aber nicht unmöglich, eine wasserdichte Anklage gegen den ehemaligen jugoslawischen Staatschef zu stricken – vorausgesetzt, Polizei und Staatsanwaltschaft arbeiten professionell. Ist das erst einmal getan, werden sich juristische Detailfragen wie von selbst lösen. Anders steht es mit der Frage, wie sich die serbische Politik zu dem Verfahren gegen Milošević verhalten wird.

Seit seiner Einrichtung im Jahre 1993 wird das Den Haager UN-Gericht in Serbien als das Instrument einer planetarischen antiserbischen Verschwörung gesehen. Andererseits ist zumindest den besser informierten Zeitgenossen klar, dass internationale Kriegsverbrechertribunale nicht auf Bäumen wachsen – sondern dann eingerichtet werden, wenn eine Notwendigkeit dafür besteht. Serben, Kroaten, Bosnier und – seit neustem – Kosovo-Albaner weigern sich, ihre Kriegsverbrecher selbst abzuurteilen. Warum auch: Sie halten sie schließlich für nationale Helden. Aus dieser Richtung ist keine Anklage und schon gar keine Verurteilung zu erwarten. Deshalb muss das jemand anderes tun, wenn die Verbrechen, die nun mal begangen wurden, nicht ungesühnt bleiben sollen.

Die großen Mächte wollen, dass Milošević vor Gericht kommt. Ja, er war ihr „Son of a bitch“, ja, sie haben ihn lange als „wichtigen Faktor für Frieden und Stabilität in der Region“ bezeichnet; aber er hat zu oft über die Stränge geschlagen, war arrogant und unvorsichtig geworden. Vor allem aber hat er seine Macht durch einen Volksaufstand verloren – und damit jedwede Legitimität eingebüßt. Seine Niederlage ist somit unumkehrbar, und – ehrlich gesagt – er ist selbst schuld daran: Sogar seine eigene Polizei war am Schluss gegen ihn.

Man sollte nicht vergessen, dass der Aufstand am 5. Oktober vergangenen Jahres leicht hätte enden können wie der Sturz des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu zum Jahreswechsel 1989/90. Hätte die Polizei Milošević’ Befehle befolgt und ein paar Demonstranten getötet, wäre ein Blutbad unausweichlich gewesen. Der Expräsident, seine Frau Mirjana Marković und ihre Gefolgsleute hätten das nicht überlebt: Die Demonstranten waren wütend und sehr gut bewaffnet. Zudem hätte ihnen niemand auf der Welt den Lynchmord übel genommen. Angesichts dieser Alternativen ist ein Gerichtsverfahren bei weitem nicht das Schlimmste, was den Miloševićs passieren konnte.

Während internationale Medien und politische Beobachter über das Datum spekulieren, an dem der jugoslawische Expräsident ausgeliefert wird, arbeitet die serbische Polizei in aller Ruhe an dem Fall. Vor zwei Wochen wurden vier Führungsmitglieder der Staatssicherheit ins Belgrader Zentralgefängnis gebracht. Dort sitzt bereits seit Wochen ihr ehemaliger Chef Rade Marković. Die Anklage gegen ihn lautet auf vierfachen Mord, seine Exkollegen werden des Amtsmissbrauchs, der Anstiftung zum politischen Mord und der Fälschung und Vernichtung offizieller Dokumente beschuldigt.

In einem Banksafe, der von der Staatssicherheit angemietet worden war, fanden die Ermittler pures Heroin im Wert von 60 Millionen Mark; weder war die Droge als konfisziert gemeldet worden, noch wurde sie durch Verbrennen zerstört, wie es das Gesetz vorsieht. Die Frage, die sich die BürgerInnen stellen, lautet: Wurde solches Heroin in den Straßen unserer Städte an unsere Kinder verkauft, um die Aktionen der Staatssicherheit zu finanzieren?

Es ist schwer, aber nicht unmöglich, eine wasserdichte Anklage gegen MiloševićĽzu stricken

Wie eine Kette legte sich eine lange Reihe unglaublicher Skandale inklusive mindestens dreißig bis heute ungeklärte Mordfälle um Milošević und seine Nomenklatura. Die Opfer: politische Gegner, Polizisten, Gangster und sogar ein Journalist. Bisher sind sie der serbischen Öffentlichkeit als politische Mörder und Terroristen vorgeführt worden, und das ist es, was für die BürgerInnen wirklich zählt. Ist der Befehlsablauf zwischen dem Exstaatschef und seinen Todesschwadronen erst einmal klar rekonstruiert und die Anklage offiziell ausgesprochen, können echte Verhandlungen mit Carla Del Ponte und dem Den Haager UN-Kriegsverbrechertribunal beginnen.

Die Zukunft Serbiens hängt davon ab, ob die grauenhaften Verbrechen, für die Milošević und sein Regime verantwortlich sind, aufgeklärt und bestraft werden. Alles andere kommt später – sogar die noch grauenhafteren Verbrechen, die unter Belgrader Anleitung in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo begangen wurden. Das ist möglicherweise nicht gerecht oder fair; aber es macht in politischer und kriminalistischer Hinsicht Sinn, Milošević für diejenigen Vergehen anzuklagen, die man ihm beweisen kann. An weiteren Anklagepunkten kann gearbeitet werden, wenn er im Gefängnis ist.

Carla Del Ponte mag schlecht gelaunt sein und drohen – sie wird beides überleben. Sie hat andere serbische Fische zu angeln, und Präsident Koštunica darf sich schon jetzt auf den Moment freuen, in dem sie ihn auf die Generäle Mladić und Mrkšić anspricht. Das Gleiche gilt für die nationalistischen Politiker in Bosnien, Kroatien und dem Kosovo und ihre jeweiligen Kriegsverbrecher. Am Ende kriegt Den Haag sie alle. MILOŠ VASIĆ

(deutsch von RR)

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