Daheim in der Fremde

■ Ehe die Biennale Berlin abgewickelt wird, wurde die Bremer Kompositions-Professorin Younghi Pagh-Paan noch mit einer Uraufführung eingeladen. Manche ZuhörerInnen hätten diesem Werk am liebsten endlos zugehört

Die Paradoxie der Situation mussten alle aushalten – KomponistInnen, InterpretInnen, OrganisatorInnen und Publikum: Ein hochkarätiges Konzert im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin, wie man es selten genug antrifft, war der Grabesgesang auf ein Festival, das sich seit 36 Jahren und spätestens seit der Wende immer größerer Beliebtheit erfreut, die zehntägige „Musikbiennale Berlin – Internationales Fest für zeitgenössische Musik“ unter dem Dach der Berliner Festspiele. Doch nicht 190 Uraufführungen und 130 Kompositionsaufträge sind das Ruhmesblatt in der Geschichte dieser Biennale, sondern die ästhetische Ausrichtung, mit der neben den Uraufführungen konsequent vierzig Jahre geteilte Musikgeschichte aufgearbeitet und präsentiert wurde.

Und genau das passt dem neuen Intendanten der Berliner Festspiele, der jetzt nach 28 Jahren Ulrich Eckardt ablöst, nicht mehr. Joachim Sartorius will ein anderes Konzept, alle bisher Verantwortlichen wurden abgelöst. Auch Heike Hofmann, die laut Ulrich Eckardt sechs „fulminante Festivals“ verantwortet hat. Klanginstallation ist jetzt die Devise, nicht so was Altmodisches wie geschriebene Musik. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Politik sich entschlossen hat, das renommierte Projekt, das sich bisher aus Lottomitteln, Hauptstadtkulturfonds und Drittmitteln von Jahr zu Jahr hangelte, fest in der Berliner Festspiele GmbH zu etablieren.

Warum wir das alles hier erzählen? Einmal geht der gedankenlose Umgang mit gewachsenen Strukturen alle an und ist übertragbbar, zum anderen war das Hauptwerk des letzten Abends eine Uraufführung der Bremer Professorin Younghi Pagh-Paan.

1977 kam sie nach Deutschland und verleiht seither ihren koreanichen Wurzeln in unterschiedlicher Weise Ausdruck. So thematisiert „Man-Nam“ für Klarinette und Streichtrio das Unglück der Heimatlosigkeit und ihre positive Verarbeitung. In der Kompositionstechnik von „Madi“ („Knoten“) für Ensemble fand sie eine Chiffre für den Knoten im eigenen Herzen. Doch nie wurden ihre Werke privatistisch, denn die politische Komponente spielte immer auch, meist sogar die größere Rolle. „No-Ul“ für Streichtrio ist gezeichnet von der brutalen Repression in ihrer Heimat und den Verschwundenen dieser Erde gewidmet. In „U-Mul“ für Ensemble geht es um gerechte Wasserverteilung und „Flammenzeichen“ hat die Flugblätter der Geschwister Scholl zum Thema.

„Dort, wo der Himmel endet“ für Mezzosopran, sechs Männerstimmen und Orchester ist entstanden aus einem Opernkompositionsauftrag des Stuttgarter Staatstheaters und wurde jetzt vom SWF-Orchester unter der Leitung von Michael Gielen großartig uraufgeführt. Es untersucht die Wurzeln der abendländischen Kultur und findet Parallelen zwischen griechischer Mythologie und koreanischer Kultur. Ausgestoßensein und Fremdsein sind Archetypen des Menschen.

Zwei Texte bilden die Grundlage: Der Monolog der Io aus Aischylos „Der gefesselte Prometheus“ und das koreanische Gedicht „Die gelbe Erde“ über Exilerfahrungen. Die Mezzosopranistin Mireille Capelle singt – westlich expressiv – den altgriechischen Text, in den die sechs Männerstimmen wie ein antiker Chor später einfallen. Dann singen die Männer auf Koreanisch, und die Sängerin fällt ein. Dem dichten, vibrierenden Orchesterklang steht ein typisch Pagh-Paan'sches Schlagzeugensemble – Darabuka mit trockenen Erbsen gefüllt, Schellenbündel, Holzfass mit zwei Rundholzstäben – gegenüber. Europäisches Orchester und koreanische Spielweise: Die melancholische Spannung, die zwischen diesen Elementen kompositorisch aufgemacht wird, erzählt nicht unbedingt von gemeinsamen Wurzeln, aber sicherlich von gemeinsamen Erfahrungen. Dazu passt ein Satz von Friedrich Hölderlin: „Aber das Eigene will so gut gelernt sein wie das Fremde.“ Es ist Pagh-Paans Lieblingssatz.

Nicht nur sie wurde viermal herausapplaudiert – „Es sollte nie mehr aufhören“, reagierte ein begeisterter Hörer – sondern auch Mathias Spahlinger, dessen „Passage/Paysage“ für großes Orchester (1989/90) sicher ein zentrales Werk der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist. Das Werk ist klingende Philosophie. Es geht um die „Aufhebung, Zersetzung von Ordnung durch eigene Gesetzmäßigkeiten“ (Spahlinger). In einem erregenden Klangkontinuum lösen sich die Flächen und Strukturen unmerklich auf, und der Hörer findet sich in einer völlig neuen Struktur wieder, deren Anfang er gar nicht bemerkt hat. Zu Beginn aber ließ Michael Gielen ein Stück von sich selbst spielen mit dem der deutschen Klassik entlehnten Titel „Pflicht und Neigung“ von 1988, ein pompöses Werk, das trotz Qualitäten an die beiden anderen Stücke nicht heranreicht. Ute Schalz-Laurenze