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„Ich erzähle ohne Hass“

Nach fast 70 Jahren besucht Eleonore Hertzberger ihre ehemalige Schule, die sie 1933 als Halbjüdin verlassen musste. Mit ihren Lebenserinnerungen beeindruckt die 84-Jährige die Jugendlichen

von ANJA MAIER

„Das ist eine aufregende Sache für mich.“ Eleonore Hertzberger tastet nach ihrem Wasserglas. „Wenn ich in die Schule gehe, werde ich die Augen schließen und denken: Wie kurz ist ein Leben!“ Am Vorabend ihres Auftritts im Sophie-Charlotte-Gymnasium, das Eleonore Hertzberger früher selbst besuchte, ist die elegante 84-Jährige nervös. Sie befürchtet, dass ihr alles vielleicht zu viel sein wird. Doch es kommt ganz anders. Während der zwei Stunden, in denen Eleonore Hertzberger aus ihrem Buch „Durch die Maschen des Netzes“ liest, kommt sie gar nicht zum Nachdenken. Zum Nachdenken darüber, ob sie die Erinnerung an ihre Zeit an der Fürstin-Bismarck-Mädchenschule, wie das Gymnasium früher hieß, heimsucht oder erfreut. Ins Gästebuch der Schule wird sie höflich schreiben: „Ich war von 1928 bis 1933 Schülerin an dieser Schule – sicher meine schönsten Jahre.“

Dass sie die Schule damals verlassen hat, weil das Klima für sie als Halbjüdin „grimmig“ wurde, weil stumpfsinnige Exerzierübungen den Unterricht prägten und sich die Schülerinnen in zwei Lager aufteilten – BDM-Mitglieder und Nicht-BDM-Mitglieder –, spielt an diesem Tag nur am Rande eine Rolle.

Eleonore Hertzberger hat in Charlottenburg eine großbürgerliche Kindheit verbracht. In der Leibnizstraße wuchs sie auf, mit Dienstboteneingang und französischer Gouvernante. Gegenüber ihrem Haus, wo heute die Leibniz-Kolonnaden stehen, befand sich eine Eisbahn mit dem schönen Namen „Wintermärchen 2“. „Dort zog ich meine Runden und übte Pirouetten, bekam ich meinen ersten Kuss. Herbert Seeligmann hieß mein Eisprinz.“ Vielleicht doch wirklich ihre schönsten Jahre.

Im Erzählen ihrer Lebensgeschichte hat Eleonore Hertzberger Erfahrung. Das spürt man, etwa wenn sie Witze einflicht, sobald die Aufmerksamkeit der etwa 200 Gymnasiasten nachlässt. Sie erzählt, wie sie mit ihren Eltern 1933 Berlin Richtung Amsterdam verlassen muss, wie sie dort ihren Mann kennen lernt. Eddie ist Rennfahrer von Beruf, außerdem der schönste Mann der Stadt – und Jude. Als die Niederlande fest in deutscher Besatzerhand sind, gelingt den beiden 1942 die Flucht. Zweieinhalb Jahre reisen sie auf abenteuerlichen Umwegen durch Westeuropa – „immer mit Glück“. Zu Fuß überqueren sie die Pyrenäen. In Spanien angekommen, arbeitet Eddie bis Kriegsende für die niederländische Exilregierung, Lore betreut durchreisende Flüchtlinge. „Viele von ihnen haben nicht überlebt“, sagt sie.

Nach dem Krieg lebt das Paar in den USA, Holland und der Schweiz. Kinder werden geboren, sie wird Opernsängerin. Es wird gelebt, endlich.

53 Jahre ist sie mit dem schönen Eddie verheiratet und führt ein bürgerliches Leben. Doch die Erfahrung von Flucht, Diktatur und Verfolgung lässt sie nicht los. Anfang der 80er-Jahre schreibt sie ihre Geschichte auf. Das Buch, in Niederländisch verfasst, erscheint 1993 in deutscher Sprache. „Mein Leben ist wie ein Seufzer dahin“, sagt sie in der restaurierten Schulaula. Wenn man ihr zuhört, scheint die Erinnerung noch ganz frisch und voller Details. Namen, Daten, Orte repetiert sie mühelos. Oft lacht sie beim Erzählen. Doch auf die Frage, was sie beim Anblick ihrer alten Schule empfindet, bleibt sie die Antwort schuldig. „Von außen kann ich mich an alles erinnern, ich kenne auch noch Lehrernamen, aber innen ... Ich erinnere mich nicht.“

Eleonore Hertzberger ist nahezu blind. Und so nimmt sie ihre alte Schule nur mehr schemenhaft wahr, kann sie hören und riechen und wohl auch die Zuneigung der Gymnasiasten spüren, die immer wieder applaudieren. Seit acht Jahren reist sie auf eigene Kosten durch deutsche Schulen, um zu berichten. „Um den Kindern zu erzählen, wie es sich in einer Diktatur lebt“, sagt sie. „Ich bin schließlich noch übrig geblieben. Und ich erzähle ohne Hass.“

Dass sie gelebt hat, wovon sie spricht, macht sie so glaubwürdig. Und dass sie so ganz ohne Berührungsangst ist: Immer wieder winkt sie Schüler nach vorn, fasst sie bei den Händen, bittet sie, ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. „Ihr habt doch nix damit zu tun, ich hab euch doch lieb“, antwortet sie auf die Frage einer Schülerin, was sie angesichts rechter Jugendlicher heute empfindet. Das klingt fast zu simpel, ist aber wahr. Die Schülerinnen und Schüler jedenfalls sind beeindruckt von der Frau und ihrer Geschichte. „Das war gut“, sagt ein 16-Jähriger danach.

Und auch Eleonore Hertzberger ist zufrieden. Als am Ende der Lesung die Schüler klatschen und trampeln, scheint noch einmal die Opernsängerin durch. Mit strahlendem Lachen und einer leichten Verbeugung wirft sie elegante Luftküsse ins Auditorium. Dies ist ihre Schule. Es sind ihre Erinnerungen. Und das ist eine aufregende Sache für sie.

Eleonore Hertzberger: „Durch die Maschen des Netzes. Ein jüdisches Ehepaar im Widerstand gegen die Nazis“. Pendo Verlag München, 242 S., 19,80 DM

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