: Das Kreuzberg Warschaus
Das alte Arbeiterviertel und neue Künstlerquartier Praga ist nur durch eine Brücke von der Altstadt Warschaus auf der linken Weichselseite getrennt. Doch der Stadtteil, der den Zweiten Weltkrieg weitgehend unzerstört überdauert hat, wurde in der Nachkriegszeit völlig vernachlässigt. Die Jugendstilhäuser waren den Kommunisten, die 1945 die Macht übernahmen, zu bourgeois, die Arbeiterwohnungen aus dem 19. Jahrhundert zu großzügig.
Während auf der anderen Weichselseite die völlig zerstörte Altstadt neu aufgebaut wurde, verkam Praga zu einer Art „Kreuzberg Warschaus“. Typisch für den Stadtteil sind die so genannten „Torsteher“, die mit Schiebermütze auf dem Kopf und Wodkaflasche in der Hand auf jemanden warten, der nie kommt. Der Rozycki-Basar, wo früher mit falschen Pässen und über Brautkleider bis hin zu Kalaschnikows mit allem gehandelt wurde, was der „Markt“ so brauchte, hat seinen besten Tage schon hinter sich. Neben dem Basar klafft heute ein gigantisches Loch, die Bauruine der neuen Markthalle.
Mit Praga verfällt seit 1945 das alte Warschau. Die drei, vier restaurierten Häuser in Pastelltönen wirken wie Fremdkörper in den vom Ruß geschwärzten Straßenzügen. Die Eisenbalkone aus der Jugendstilzeit hängen schief in der Verankerung und drohen jederzeit abzustürzen. Neben Wäscheleinen, die noch auf Leben in den Häusern hindeuten, gähnen schwarze Fensterlöcher.
Auf dem Spielplatz des Kindergartens stand einst eine der schönsten Synagogen Warschaus, ein Rundbau, wie er in der Synagogenarchitektur höchst selten ist. Nach dem Krieg ließen die neuen Stadtväter Warschaus die Synagoge abtragen, da in Praga keine Juden mehr wohnten. Im Ritualbad der Frauen, der Mikwe, ist heute eine Schule untergebracht und im erstaunlich großen jüdischen Lehr- und Erziehungsheim Pragas das Puppentheater „Baj“. Kasperl machte heute seine Späße im ehemaligen Gebetssaal.
Während an die Juden Pragas heute kaum noch etwas erinnert – selbst im vor kurzem erschienen „Baedeker Pragas“ werden sie mit keinem Wort erwähnt – ist die große russisch-orthodoxe Basilika zum Wahrzeichen des Viertels aufgestiegen. Traditionell wohnten die Händler, in der Teilungszeit Polens auch die russischen Besatzer, auf der rechten Weichselseite Warschaus. Auch heute gehört in Praga das Russische zum Alltag.
Vor einigen Jahren haben die Avantgardekünstler Warschaus dieses letzte tatsächlich alte Viertel der Hauptstadt für sich entdeckt. „Praga“, so sagen sie, „ist das eigentliche Warschau.“ GABRIELE LESSER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen