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Jeder Tag ist eine kleine Dauerkarte

„Leben heißt Schwierigkeiten überwinden“ oder Vom Aufgabencharakter der Welt: Bei den Vorträgen in der Urania finden Singles, Tiefenpsychologen und andere einsame Großstadtmenschen Antworten auf ihre drängenden Fragen

Es gibt diese Freitagnachmittage, zu trüb und leblos für Frühling. Die meisten Berliner kompensieren das mit Einkäufen bei großen Warendiscountern oder mit Kümmern um ein sanftes Haustier. Andere suchen in der Urania nach einem Sinn und Zuhause. Denn das Urania-Haus scheint seine Besucher mit all ihren Unzulänglichkeiten und Verlorenheitsgefühlen zu verstehen. Die Digitalanzeige an der Fassade leuchtet klar. Im Urania-Café gibt es billigen Käsekuchen. Und im Vortragssaal rät eine Diaprojektion, man solle „die Einstellung Telefon“ an seinem Hörgerät nutzen.

An diesem Nachmittag wird dort der Tiefenpsychologe Dr. Günther Weier zum Thema „Leben heißt Schwierigkeiten überwinden“ sprechen. Günter Weier ist normalerweise auch Zuhörer in der Urania. Vermutlich hat er, wie die meisten im Publikum, eine Dauerkarte. Genau wie der Junge mit der gelben Technobrille und die Frau mit dem roten Hut, die hier etwa kürzlich erst den Vortrag eines Münchner Professors zu „Singles in der Großstadt“ besucht haben. Und weil Günter Weier also weiß, mit was für Gefühlen die Menschen zu einem Urania-Vortrag kommen, führt er mit einer hellen Stimme durch das Thema, seine Gesten sind verständnisvoll, seine Ratschläge logisch.

Bevor man Schwierigkeiten überwinden könne, müsse man sie erst einmal verstehen, sagt er zum Beispiel: „Verstehen heißt dabei mehr als nur akustisch verstehen.“ Außerdem solle man sich schon überlegen, dass der Partner es ja auch nicht leicht mit einem habe. Günter Weiers Frau ist Klavierlehrerin. Es folgen Schilderungen bekannter Situationen: „Unselbständige Menschen neigen dazu, sich mit Alkohol und Drogen zu betäuben“, „viele fühlen sich auch in der Gruppe einsam“, „der Körper lässt einen im Stich“, meint Weier. Das alles sei ein „Kanon der Mühseligkeiten“. Kurzum, „das Leben wird ganz klein“ und „an den Rändern lauert die Angst“. Trotzdem sei es keine Lösung, einfach wegzulaufen. Weier glaubt nicht, dass die Aussteiger, die auf ferne Inseln flüchten, glücklicher seien als die Menschen in Berlin. Denn man dürfe dem „Aufgabencharakter der Welt“ nicht entfliehen. Stattdessen solle man sich stets fragen: „Kann ich noch Ordnung halten? Habe ich Interesse an Kultur?“

„Ist es nicht so?“, hält Weier voller Anteilnahme inne. Einige Besucher nicken inzwischen furchtlos. Weier fährt fort mit dem Bergwanderungsgleichnis. Im Leben gäbe es die, die stets zu schnell den Gipfel erstürmten. Die Folge sei Herzinfarkt. Dann seien da noch die anderen, die immer den bequemsten Weg wählten und nie ans Ziel kämen. Richtig sei natürlich ein gesundes Mittelmaß von beidem. Den versöhnlichen Abschluss seines Vortrags bildet ein Zitat von Schopenhauer: „Jeder Tag ist ein kleines Leben.“ Zufrieden blickt er in die Runde. Bevor die Zuhörer allerdings wieder heraus in ihre kleinen Leben treten müssen, wollen sie noch praktische Lösungen vom Psychologen. Ein Mann fragt: „Woran erkannt man, ob man verliebt ist oder nur einen Seelengefährten gefunden hat?“

Günter Weier kann das jetzt auch nicht so genau beantworten. Ein Seelengefährte sei doch auch nicht schlecht. Übrigens habe er ein Buch geschrieben. Es kostet 45 Mark und man kann es sofort bei ihm kaufen. Manche Menschen mögen denken, die Urania ist unmodern. Doch vielen wird dort tatsächlich geholfen. Das sieht man an den Gesichtern, wenn sich die Türen des Vortragssaales wieder öffnen. Plötzlich huscht eine Frau vorbei. Es ist meine Nachbarin. Sie tut so, als sähe sie mich nicht.

KIRSTEN KÜPPERS

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