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: WLADIMIR KAMINER über Geldquellen

Kultivierte Sozialhilfe in Quedlinburg

In den letzten zehn Jahren haben die Leute im Osten gelernt, auch ganz ohne Arbeit zu leben und trotzdem zufrieden auszusehen. So wirkten jedenfalls die Einheimischen in Quedlinburg auf mich. Es gibt dort 1.200 robuste Häuser im „niedersächsischen Baustil“, saubere Straßen, einen schlängelnden Bach und frische Luft. Die Stadt gilt als „Wiege der deutschen Geschichte“ und bekommt seit 1994 Geld von der Unesco – weil sie als „Weltkulturerbe“ anerkannt ist.

Vor der Wende waren die meisten Bewohner in zwei großen Fabriken beschäftigt: Die eine produzierte Messtechnikgeräte, die andere befand sich außerhalb der Stadt und presste Kochtöpfe aus Stahl. Das Eisenhüttenwerk beschäftigte mehr als 9.000 Arbeiter. Die Wiedervereinigung sorgte für frische Luft, sie befreite die Stadt von den sozialistischen Industriebetrieben. Vom Eisenhüttenwerk blieb nur ein kleiner Emalierbetrieb mit 150 Beschäftigten, die Messtechnikproduktion wurde gänzlich eingestellt. Offiziell wird die Arbeitslosigkeit in der Stadt mit 25 Prozent angegeben. In Wirklichkeit liegt sie bei fast 100 Prozent. Dennoch wirken die 25.000 Einwohner sehr freundlich und gelassen. Nur wenige haben die Stadt verlassen, um ihr Glück in den alten Bundesländern zu suchen. Es gibt immer noch ein Krankenhaus mit 600 Angestellten, eine Lehrstätte für Friedhofsgärtner und eine Zahnarztpraxis, in der eine blonde, russische Zahnärztin namens Helena die Zähne der Quedlinburger vor Karies schützt. Selbst die Rechten lassen sich von ihr behandeln. Weil sie schon lange dort lebt, wird sie als Ausländerin gar nicht mehr wahrgenommen. „Du gehörst zu uns“, meinen die Rechten. Derzeit regen sie sich hauptsächlich über die Jugoslawen auf, die in einem Ausländerwohnheim am Rande der Stadt vor sich hin vegetieren und angeblich Drogen an Schüler verkaufen.

Die Quedlinburger selbst verdienen ihr Geld beim Arbeitsamt, beim Sozialamt und sogar beim Finanzamt. Die Sozialhilfe ist hier sehr kultiviert. Sogar die Quedlinburger Hunde bekommen sieben Mark Tagessatz, damit sie ruhig bleiben und den Fremden nicht an den Arsch gehen. Ihre Verwandten in Berlin können von einer solchen Großzügigkeit nur träumen. Sie werden hier sogar aus der U-Bahn geschmissen, wenn man sie ohne Maulkorb und ohne Begleitung erwischt. In Quedlinburg bekommt man vom Sozialamt außerdem noch einen Kohlen- und einen Gartenzusatz gezahlt. Quedlinburg steht also bombig da. Im Gegensatz zu manchen anderen Orten in der Umgebung, die schon fast von der Erdoberfläche verschwunden sind. Von Halberstadt ist beispielsweise nur noch die Hälfte übrig, und Wegeleben ist gar nicht mehr zu finden. Bis auf ein halb abgerissenes Bahnhofsgebäude, auf dem ein roter Stern und ein Mann ohne Kopf gemalt sind. In Quedlinburg dagegen brummt das Leben. Die Rentner trinken ihr Bier, die Kinder gehen zur Schule, die Jungen sitzen am Marktplatz auf der großen Treppe vor dem Rathaus und rebellieren leise vor sich hin. Eine Portion Harzer Leber mit Gurkensalat wird für 9,99 Mark angeboten. Die Stadt will sich in Zukunft noch stärker als deutsche Sehenswürdigkeit vermarkten. Es gibt viel zu besichtigen: etwa die alte Burg auf einem alten Berg, Burgberg genannt. Von dort hat man einen herrlichen Blick auf die Kleinstadt. Eigentlich sieht in Quedlinburg jedes Haus wie eine kleine Burg aus, sogar die Sparkasse. Alles ist hier schön und sauber.Vielleicht wird die Stadt bald Bad Quedlinburg heißen, und lauter Pensionäre aus Niedersachsen werden hier ihre ehrlich verdiente Rente in die mittelalterlichen Geschäfte der Stadt tragen. Und die Kochtöpfe? Sicherlich wird sie dann niemand mehr vermissen.