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Die Maus auf dem Weg zum Mond

Heranwachsen in ökonomischer Misere als Rätsel: Lynne Ramsays Ratcatcher  ■ Von Urs Richter

Am Anfang ist ein Tanz aus Licht. Jemand dreht sich um sich selbst, vor einem hellen Fenster, unter transparenten Schleiern. Dann bekommt der Jemand eine geschallert und in nöligem Schottisch fordert eine Stimme, er solle endlich die Stiefel anziehen. Ein Junge befreit sich aus einer Gardine. Im blendenden Gegenlicht wickelt sie sich langsam wieder zurück. Bereits in dieser ersten Einstellung fügt Ratcatcher seine gegenwendigen Erzählperspektiven in ein einziges Bild: Den Tag-traum der Kindheit und den Wirklichkeitsdruck einer ruppigen Außenwelt.

Wenige Minuten später wird der Junge tot sein: beim Rumbalgen mit seinem Kumpel James im Abwasserkanal eines Glasgower Armenviertels ertrunken. Wochenlang wird der das Erlebnis als drückendes Geheimnis mit sich tragen und dem Freund schließlich ins Wasser folgen. Die junge schottische Regisseurin Lynne Ramsay lässt offen, wie schuldig James an diesem Unfall ist; oder ob seine Schuld erst mit dem Verschweigen beginnt; oder ob er ganz richtig handelt, indem er den kläglichen Rest Zusammenhalt in seiner Familie nicht durch eine Beichte belastet.

Auf Zusammenhalt ist das gesamte Viertel angewiesen. Der Film spielt in den frühen 70ern, das ehemalige Proletarierquartier ist ein Arbeitslosenslum, und die Müllabfuhr streikt seit Wochen. Einzig Ratten und Läuse haben noch zu tun. Alle anderen warten: die Erwachsenen auf monatliche Stütze und eine neue Wohnung, die Jugendlichen auf die nächste Schlägerei und schnellen Sex – und die, die noch Kinder sind, warten auf jenes Großsein, von dem ihnen die Menschen in ihrer Umgebung doch nur ein trostloses Beispiel vorleben.

Souverän vermeidet Ramsay den Stil des traditionellen britischen working class-Kinos. Vom Free Cinema in den 50ern und 60ern, über die Arbeiten von Mike Leigh und anderen unter Thatcher, bis zu den zeitgenössischen Filmen von Alan Clark und Tim Roth verpflichtet dessen politisierte Haltung auf „sozialen Realismus“. Diese Kategorie kaschiert manchmal auch allerhand. Engagement endet etwa bei Loach häufig in Klassenkampfkitsch. Die Forderung nach psychologischer Wahrhaftigkeit bescheidet sich bisweilen in der Verwendung von Laiendarstellern und Originalschauplätzen. Und wie der Anspruch des „sozialen Realismus“ zu blankem Dekor auftapeziert wird, hat neulich Billy Elliot vorgetänzelt.

Ramsay hingegen erzählt vom Heranwachsen in ökonomischer Misere weniger in aufklärender Absicht, denn als Rätsel. James bleibt eine befremdliche Figur. In seinem greisenhaften Kindergesicht ist die Jugend bereits zu Ende, ohne dass man wüsste, wann sie begonnen hat. Er wirkt eher gleichgültig, als traurig. Der zärtlichste Moment zwischen ihm und seiner Mutter entsteht, als sie den Läusekamm durch seine Haare zieht. James wird die Geste aufgreifen, um beim gemeinsamen Wannenbad einem Nachbarsmädchen Zuneigung zu offenbaren. Hier ist Ratcatcher am stärksten: Trotz all der kommunikativen Armut findet der Film traumklare Bilder für die Sehnsucht seiner Figuren.

Ein geistig zurückgebliebener Junge bindet seine Maus an einen Heliumballon und lässt sie aufsteigen. „Guckt her, meine Snowball kann fliegen.“ Ramsay löst die Szene surreal auf: Das kleine weiße Tier schwebt an einem roten Ballon auf den Vollmond zu. Dort hausen Artgenossen, ein Xylophon klöppelt Orff – wir dürfen annehmen, sie sind glücklich.

James steigt in einen Linienbus und bleibt bis zur Endstation sitzen. Unter gewitterblauem Himmel stehen Rohbauten inmitten korngelber Felder. Er stöbert herum, pinkelt in eine Kloschüssel ohne Abfluss, liegt Probe in der Badewanne, übt die Utopie. Als er aus dem Fenster klettert und in die Felder hinausläuft wie in ein großes Van Gogh-Bild, zieht er die Kamera mit durch den Rahmen, ins Freie.

Solche Einstellungen sind toll. Ramsay hat ein besseres Gespür für Augenblicke, denn für Dramaturgie. Einige Montagen geraten merkwürdig willkürlich, etwa wenn James Vater ein anderes Kind aus dem Kanal rettet, während James mit seiner Freundin in der Badewanne Toter Mann spielt. Einige Einfälle sind nicht frei von Manierismen, die geballte Vergänglichkeitsillustration aus Müllsäcken, Ungeziefer, alten Schuhen und Brackwasser ist nicht brennend originell.

Gegen Ende aber steht ein bezwingendes Bild. Ein zweites Mal ist James in die halbfertige Siedlung gefahren, diesmal sind die Häuser verschlossen. Von außen schaut er in die dämmerigen Zimmer, wendet sich um, rennt in die Felder. Die Kamera folgt ihm nicht mehr, sein Spielraum bleibt begrenzt durch die Quadrierung des Fensterrahmens.

täglich, 20.30 Uhr, 3001

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