: Traurige Tundra
■ Neu im Kino: In „Sieben Lieder aus der Tundra“ von Anastasia Lapsui und Markku Lehmuskallio spielen nur Laien
Die Natur ist so gewaltig, dass sie dem Film in die Quere kommt: Im Winter ist alles in der Tundra so eisig weiß, dass man auf der Leinwand die Untertitel oft kaum lesen kann, weil es für sie einfach keinen Kontrasthintergrund gibt. Im Sommer gibt es dagegen so viel Mücken, dass die Aufnahmen wie durch eine schwirrende Wolke gemacht wirken, und sich immer wieder einzelne Insekten auf die Linse setzten. So eindrucksvoll wie hier wird im Kino selten eine Landschaft evoziert: das sind keine schönen, zurechtkomponierten Bilder von Schneelandschaften mit den Zelten der Nenets, sondern eher rohe, archaische Ansichten eines Mikrokosmos, der es den Menschen schwer macht, in ihm zu überleben.
Aber diese Last hat das Nomadenvolk der Nenets seit Urzeiten gemeistert, und erst der Fortschritt, der in ihren Breiten erst Leninismus und dann Stalinismus hieß, hat diesem Volk das Überleben fast unmöglich gemacht.
Claude Lévi-Strauss beschreibt in seinem Hauptwerk „Traurige Tropen“ „das Aussterben der „primitiven“ Kulturen in ihrer Konfrontation mit dem zivilisatorischen sogenannten Fortschritt“, und es wäre mehr als nur ein Wortspiel, wenn man diesen Film entsprechend „Traurige Tundra“ nennen würde.
Die Filmemacherin Anastasia Lapsui ist selber gebürtige Nenet, und alleine ihr Vorname sagt schon viel darüber aus, wie es um ihr Volk und seine Kultur steht. Zusammen mit dem finnischen Regisseur Markku Lehmuskallione hat sie eine Reihe von Dokumentarfilmen über das Leben und die Kultur der Nenets gedreht. Dies ist nun ein Spielfilm, in dem sieben Lieder (fast alle todtraurig) zuerst gesungen, und dann als prägnante, narrative Miniaturen inszeniert werden. Nach einem alten Ritual wird ein Rentier geopfert, ein Kind wird mit einem Wiegenlied in den Schlaf gesummt, eine junge Frau soll mit einem Patriarchen mit viel Rentieren verheiratet werden, sie liebt die drei armen Knechte ihres Clans, aber auch bei denen erwartet sie ein trauriges Los.
Solche Lieder, solche Geschichten gab es (nicht nur) bei den Nenets wohl schon seit Anbeginn der Zeiten, aber schon mit dem dritten Gesang kommen die Sowjetkommissare in das Zelt eines Rentierhirten, um seine Herde für die Kolchose zu beschlagnahmen. Und die restliche Geschichten erzählen davon, wie diese Kultur immer mehr verschwindet, wie die Riten verboten, die Nomaden zwangsangesiedelt, die Kinder in die russischen Schulen deportiert werden.
Bei all dem ist der Film aber alles andere als deprimierend, den Lapsui und Lehmuskallo ist es gelungen, die ganz eigene Schönheit der Landschaft und den Charme dieser am Rand der Welt lebenden Menschen einzufangen.
In „Seitsemän Laula Tundralta“ (so der Originaltitel dieses in der Sprache der Nenets gedrehten Films) spielen nur Laien aus den Originaldrehorten: ein Lehrer stellt einen Lehrer da, ein „oberster Landwirt“ einen „obersten Landwirt“ usw. Da kann man keine schauspielerischen Glanzleistungen erwarten, und manchmal merkt man es den Darstellern auch deutlich an, dass sie etwas gerade mühsam auswendig gelerntes aufsagen.
Aber dafür stimmen ihre Bewegungen, wie sie sich in ihren Trachten bewegen, ihr ganzer Habitus so genau, dass man einen sehr intensiven und glaubwürdigen Eindruck vom Leben in der Tundra bekommt. Das fiktive Trugbild dieses Films ist eh so durchscheinend, dass er fast immer mindestens zur Hälfte wie ein Dokumentarfilm angesehen wird.
Die allgegenwärtigen Tiere, das Wetter, die Weite, die sehr lebendigen und ausdruckstarken Gesichter – alles, was wirklich wichtig, bewahrenswert und schön ist an diesem Film, haben die beiden Regisseure schlicht (dabei aber durchaus geschickt und stimmig) in manchmal fast schneeblind machendem Weißschwarz fotografiert.Und die Lieder? Die ohne Begleitung vorgetragenen Gesänge klingen kantig, traurig, doch auch tröstlich und warm gerade in der schlimmsten Leere und Kälte. Wilfried Hippen
Heute bis Sa. um 20.30 Uhr, So. bis Di. um 18.30 Uhr im Kino 46 in der nenetischen Originalfassung mit Untertiteln
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