: Der innere Doppeldecker
Kein Grund zum Scheiden: „The Cruise“ zeigt das Leben des New-York-Stadtführers Timothy „Speed“ Levitch
Timothy „Speed“ Levitch ist arrogant und eingebildet, selbstverliebt und verquatscht, hektisch und chaotisch, exzentrisch und witzig. Kurz: Levitch ist New Yorker. Und Anlass, Hauptdarsteller und einziger Gegenstand des Dokumentarfilms „The Cruise“.
Eigentlich ist Levitch Drehbuch- und Theaterautor. Aber weil halb New York eine Karriere im Showbiz anstrebt, muss ein Teil seinen Lebensunterhalt in einem bürgerlichen Beruf verdienen. Levitch arbeitet als Fremdenführer für die Gray Lines, die Touristen in ihren Doppeldeckerbussen durch den Big Apple kutschieren. Die Kamera folgt ihm durch die Stadt, die für ihn ein „lebender Organismus“ ist: „Mein Verhältnis zu New York ist wie das zu anderen Menschen, es ändert sich jede Millisekunde. Letzten Winter dachte ich, wir würden uns scheiden lassen.“
Der Fremdenführer Levitch inszeniert sich vor meistenteils apathischen Busbesatzungen mit geradezu missionarischem Eifer als intellektuelle Einmannshow, und sein assoziatives Stakkato erhält nur mehr durch den demonstrativen Einsatz des Ein/aus-Knopfs an seinem Mikrofon eine dürftige Struktur. Mal ballert er seine Zuhörer mit Daten voll, mal mit fragwürdigen Anekdoten, dann zitiert er literarische Klassiker von Poe über Twain bis Miller. „Dies ist Zivilisation“, erzählt er ahnungslosen Touristen mit quäkender Stimme, „dies ist absurd, und es wird nicht andauern. Der neue Ann-Taylor-Shop zu Ihrer Rechten.“ Schließlich erklärt er selbst die Sonne zu einem „weiteren großartigen New Yorker Wahrzeichen – über Ihnen zu Ihrer Linken“.
Aber auch außerhalb eines Doppeldeckerbusses gibt Levitch so überzeugend den Prototyp des neurotischen New Yorkers, dass man sich spätestens in dem Moment, in dem er die Brooklyn Bridge umarmt, um eins mit ihr zu werden, fragen muss, ob man hier nicht ein Klischee aufgetischt bekommt, das außerhalb eines Woody-Allen-Films gar nicht existiert. Problemlos kann Levitch anhand einer Fassade einen Stegreifvortrag zur sexuellen Bedeutung von Terrakotta halten oder anlässlich des quadratischen Stadtplans von Manhattan in eine schier endlose Tirade über die Bedeutung seiner Person im Weltenlauf, die verkommene Zivilisation und das Lebens als solches verfallen.
In sorgsam komponierten Schwarzweißbildern agiert Levitch zwanghaft als Dampfplauderer, Nervensäge und Philosoph. Das ist oft unterhaltsam, manchmal schlicht dämlich, immer selbstverliebt und arrogant und eigentlich unerträglich. Manchmal bleibt Levitch selbst der Mund offen stehen ob der Unglaublichkeiten, die er da ablässt. Bennett Miller muss nur die Kamera draufhalten.
Und irgendwann stößt er dann tatsächlich vor in die Psyche von Levitch, entblößt der seine Versagensängste und das zerrüttete Verhältnis zu Familie und Freunden. „Jede Doppeldeckertour“, sagt Levitch, „ist für mich eine Reise näher an meinen Tod.“
Greta Garbo, erzählt Levitch auf einer der Touren, habe einmal gesagt, der Grund, warum sie in New York City lebe, sei der, dass dies der einzige Ort auf der ganzen Welt sei, an dem sie allein sein könne. Von der Garbo weiß man, dass sie genau das genossen hat. Nach „The Cruise“ weiß man, dass Timothy Levitch genau daran leidet.
THOMAS WINKLER
„The Cruise“. Regie und Kamera: Bennett Miller. USA 1998, 76 Min. (im fsk)
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