Einsamer nie

Zwischen Engagement und selbst gewählter Zerstörung: „Escape To Life“, ein Dokumentarfilm von Andrea Weiss und Wieland Speck, zeichnet das Schicksal der symbiotischen Geschwister Erika und Klaus Mann – und zeigt politischen Widerstand als atemberaubend selbstverständliche Haltung

von CLAUS LÖSER

Selbst die Masturbationsgewohnheiten Thomas Manns gehören heute zum historisch verbürgten Gemeingut, sind quasi Teil der viel beschworenen Leitkultur geworden. Wir wissen auch, was der Meister wann und warum zum Frühstück verzehrt hat. Bezüglich seiner fast beängstigend begabten und produktiven Kinder Erika und Klaus gibt es dagegen immer noch einige Leerstellen, selbst einfachste Eckdaten betreffend. Höchste Zeit, dass sich jemand des Themas angenommen hat.

Erschien die hölzerne Klaus-Mann-Verfilmung „Der Vulkan“ durch Ottokar Runze noch wie ein Versuch, jegliches Interesse am Gegenstand zu vergällen, gelang nun Andrea Weiss und Wieland Speck mit ihrem Dokumentarfilm „Escape To Life“ eine angemessene Annäherung. Schreibende Kinder von schreibenden Übervätern haben es schwer – das erzählt die deutsche Literaturgeschichte von Goethe bis Hein. Über die Junior-Manns machten sich die Zeitgenossen schon in den 20ern lustig. Vor allem aber schlugen Weltkrieg und Nachkriegschaos zu, die eine wirklich autonome Artikulation und Anerkennung verhinderten.

Rückblickend gab es im nur 43 Jahre währenden Leben von Klaus Mann lediglich eine Phase, in der der Schriftsteller wirklich in sich zu ruhen schien, in der sich Lebensanspruch und -wirklichkeit annähernd zu decken schienen: Die Jahre von 1924 bis 1933, die er mit Unterbrechungen größtenteils in Berlin verbrachte.

Hier war es eine Zeit lang möglich, die Utopie sich verwischender Geschlechtergrenzen und das Ideal unablässiger künstlerischer Produktivität konkret zu leben. Klaus Mann genoss den Ruhm des skandalumwitterten Bohemiens, den ihm „Der fromme Tanz“ eingebracht hatte, veröffentlichte mehrere Romane und Stücke. Seine Schwester Erika fuhr Autorennen, spielte für Theater und Film, heiratete Gustaf Gründgens. Sie schrieb über diese Zeit: „Überall stürzte man sich in wilde Genüsse und Ausschweifungen. Es war ganz allgemein ein offenes und bewusstes Sich-Berauschen ohne Grund.“ Die Berliner Jahre waren natürlich nicht einfach paradiesisch: Drogensucht und Selbstmorde wichtiger Freunde hinterließen ihre Spuren – aber diese Zerstörung war wenigstens noch eine selbst gewählte.

„Escape To Life“ zeigt den Widerstand der Mann-Geschwister gegen die Nazis als eine geradezu atemberaubend selbstverständliche Haltung, von der Erika Mann im Rückblick mit beiläufigem Understatement erzählt. Dabei erwiesen sich der Verlust der Heimat und der Sturz ins Exil als verheerend. Mitte der Vierziger notiert Klaus Mann in New York: „Einsamer nie. Trotz allem fallen mir diese Worte Gottfried Benns ein.“ Wahlvater Benn hatte Klaus Mann im Mai 1933 prophezeit: „Was für Freunde tauschen Sie für die alten, die Sie verlieren werden, ein? Wer wird Sie dort verstehen? Sie werden doch immer der Intellektuelle, das heißt der Verdächtige bleiben, und niemand nimmt Sie dort auf.“ Tatsächlich gibt sich Klaus Mann wieder verstärkt seiner Morphiumsucht hin, verstrickt sich in komplizierten Beziehungen. Am 21. Mai 1949 stirbt er in Cannes an einer Medikamentenvergiftung.

Seine Schwester Erika, die in den Jahren vorher noch unermüdlich als Kabarettistin, Herausgeberin, Schauspielerin und Reporterin unterwegs gewesen war, schränkt von da an ihre Aktivitäten spürbar ein. Jene Frau, die einst Inbegriff weiblicher Emanzipation war, wird zur persönlichen Sekretärin und Managerin ihres berühmten Vaters.

Das Autorenduo Andrea Weiss und Wieland Speck hat aus diesem biografischen Steinbruch markante Stücke geborgen. Chronologisch – aber keineswegs protokollarisch – arbeiten sie sich durch die Jahrzehnte. Mit Elisabeth Mann Borgese (der letzten lebenden Mann-Tochter), der Fotografin Marianne Breslauer sowie dem einstigen Mitglied des Kabaretts „Die Pfeffermühle“, Igor Pahlen, wurden wichtige Mitstreiter vor die Kamera geholt.

Daneben stehen Archivaufnahmen, wie ein wunderbares Kettenraucher-Interview mit Fritz J. Raddatz oder Ausschnitte aus Leontine Sagans Klassiker „Mädchen in Uniform“ (1931).

Da die Materiallage offenbar nicht ausreichend war, entschied man sich zusätzlich für eine Reihe von inszenierten Passagen. Mit Spielfilmanteilen innerhalb von Dokumentationen hat es allerdings eine eigene Bewandtnis. Weniger weil das Verfahren durchs deutsche Fernsehen diskreditiert wurde, sondern weil die fiktionalen Momente meist spürbar abfallen gegenüber dem authentischen Material. Dem insgesamt einnehmenden Eindruck dieses komplexen und liebevollen Films tut das aber keinen Abbruch.

„Escape To Life – Die Erika und Klaus Mann Story“. Regie und Buch: Andrea Weiss und Wieland Speck. Deutschland/Großbritannien 2000, 84 Min.