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Die Crux fürs Kreuz

An Stühlen lässt sich die gesamte Designgeschichte nachvollziehen: Freischwinger und gusseiserner Gartenstuhl sind Klassiker, die postmodernen Sitzmöbel eine Geschmacksverirrung in Pastellfarben

von MICHAEL KASISKE

Beim Fototermin im Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Parteispendenaffäre ließen sich die Vorgeladenen nicht im Sitzen ablichten, da das passive Sitzen bereits einen Anklagestatus signalisiert, den kein Politiker gelten lassen will. Auf das verschmähte Sitzgerät achtete niemand. Es ist das eigens für den Umbau des Reichstags entworfene Möbel von Lord Norman Foster, von dem ein Berliner Designer sagt, es vermittele den Eindruck, als würde es nach fünfmaligem Draufsitzen in sich zusammenklappen.

Waghalsige Entwürfe

Natürlich ist Fosters Stuhl für den deutschen Bundestag nicht instabiler als die vielen anderen zur Zeit ihres Entwurfs als waghalsig empfundenen Artgenossen: die vor 150 Jahren entwickelten leichten Bugholzstühle von Michael Thonet, die dem Jugendstil verpflichteten Entwürfe der Wiener Architekten Josef Hoffmann, Otto Wagner und Koloman Moser um 1900, die Freischwinger von Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe oder der ZigZag von Gerrit Rietveld in den Zwanzigerjahren, die Kunststoffstühle der Sixties, um einige formale und materielle Highlights in der Geschichte dieses Möbels zu nennen.

An Stühlen lässt sich die gesamte Designgeschichte nachvollziehen. Was wären die Achtzigerjahre ohne die postmodernen Collagen gewesen, die heute wie eine Geschmacksverirrung in Pastellfarben erscheinen? Seinerzeit verkündeten sie einen frischen Aufbruch aus dem formal ausgelutschten Repertoire des vorhergehenden Jahrzehnts mit seinen spacigen orange und braunen Polstern einerseits und den ökologisch geprägten Vollholzsitzen andererseits. Doch ihnen war keine lange Halbwertszeit beschieden. Manch ein Stuhl, wie der aus einem Einkaufswagen entwickelte „Consumers Rest“ von Stiletto, stellte etwa bei Bewerbungsgesprächen eine besondere Anforderung an den Kandidaten, nämlich trotz der tiefen Sitzfläche eine gute Haltung zu bewahren. Oder der „Seconda“ von Mario Botta, den eine Kollegin unlängst als das „ultimative Möbel für unliebsame Besucher“ bezeichnete, was dem etwas formalistischen Metallgestell mit der Gummirolle als Rückenpolster gar nicht anzusehen ist. Doch dass er sich nicht am Markt durchsetzen konnte, spricht für sich.

Wird ein Stuhl hingegen über lange Zeit hergestellt, wird er gar zu einem Synonym für eine Ära, erhält er das inzwischen leicht inflationär gebrauchte Prädikat „Klassiker“. Dazu gehören jedenfalls die Freischwinger, veranschaulichen sie doch die Entwicklung weg von der Statik – die in den Zwanzigerjahren erwünschte „Empfindung, die entsteht, wenn die Beziehung von Stütze und Last nicht mehr traditionell gebunden ist“, wie der Kunsthistoriker Sigfried Gideon formuliert hat. Fast keine Chance auf eine erneute Auflage haben Entwürfe, die handwerklichen Einsatz erfordern. Aus dem 19. Jahrhundert sind deshalb nur wenige Stühle (wieder) in Produktion: Der gusseiserne Gartenstuhl von Karl Friedrich Schinkel, der damit die Möglichkeiten der Industrialisierung über Stützen und Terrakotten hinaus zu nutzen wusste, oder die zwar aufwendigen, doch formal faszinierend gelungenen Stücke des schottischen Jugendstilarchitekten Charles Rennie Mackintosh.

Unabhängig von der Form ist das Sitzen die sprichwörtliche Crux für das Kreuz des Menschen. Liegen und Lümmeln wären nicht nur die lässigeren Formen körperlicher Entspannung, sondern auch die gesünderen. Die aufrechte Haltung im Sitzen erfordert bewusste Anstrengung. Bei Müdigkeit gerät der Rücken während des Disputierens, Speisens oder Arbeitens unversehens in Schieflage, und die Bandscheiben grüßen irgendwann gequält. Deshalb bevorzuge ich am Schreibtisch einen Hocker, der nicht dazu verführt, sich hängen zu lassen.

Hinterbeinlose Stühle

In Deutschland gibt es neben den Kunstgewerbemuseen zwei private Institutionen, die sich vor allem Stühlen widmen. Die eine ist das Vitra-Design-Museum, das gerade in seinem Stammhaus in Weil am Rhein mit der Ausstellung „Besessen!“ die stilistische Entwicklung von 1800 bis in die Gegenwart anhand von 260 Sitzmöbeln zeigt. Die zweite ist das Stuhlmuseum Burg Beverungen im Weserbergland, dessen Sammlung im Wesentlichen die Entwicklung der hinterbeinlosen Kragstühle und Entwürfe des französischen Ingenieurs Jean Prouvé umfasst und damit den konstruktiv-gestalterischen Aspekt des Stuhls in den Vordergrund rückt.

Und was ist gegenwärtig angesagt? Als ich einige KollegInnen nach ihrem Lieblingsstuhl fragte, war das in den letzten Jahren oft verwandte „Plywood“ das favorisierte Material (obwohl etwa der LCM von Charles und Ray Eames bereits vor über fünfzig Jahre entworfen wurde), andere greifen auf die Objekte ihrer Kindheit in den Sechzigerjahren zurück, Dritte entschieden sich für die schlichten und alltäglichen Stühle, die wenig Aufhebens von ihrer Gestalt machen.

Wenn es auch im Bundestag noch nicht gelungen ist, ein Stuhl wurde durch Politik berühmt. Es ist der „3107“ von Arne Jacobsen, auf den sich nackt und rittlings das Callgirl Christine Keeler setzte. Mit diesem Bild brachte sie in den Sechzigerjahren eine britisches Regierung in die Bredouille. Schade, mit solch aufregenden Fotos ist bei der deutschen Schmiergeldpolitikerkaste leider nicht zu rechnen.

Stuhlmuseum Burg Beverungen,An der Weserbrücke, Beverungen,www.tecta.de/museum.Vitra Design Museum, Charles-Eames-Straße 1, Weil am Rhein, www.design-museum.de. Die Ausstellung „Besessen!“ läuft bis zum 17. Juni 2001.Ein Fachgeschäft in Berlin mit einem umfangreichen Sortiment vor allem ergonomischer Sitzgelegenheiten ist Sitzart, Blissestraße 29, 10713 Berlin,Tel. (0 30) 8 54 71 11, www.sitz-art.de.

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