: „Aggression kein Thema“
Interview EDITH KRESTA und PETRA SCHROTT
taz: Welche Jugendlichen kamen in Ihre Kurse im „Ghetto“ von Bourtzwiller im Elsass?
Eric Vazzoler: Nicht die härtesten, sondern solche, die beispielsweise das Fachabitur haben. Auch die Härteren sind vorbeigekommen. Wenn sie aber die Stimmung im Labor mitbekommen haben, wenn sie erfuhren, wie es in einem Labor riecht, wie man still und in Ruhe arbeiten muss, dann kamen sie einmal und nie wieder. Also: Die Creme der Jugendlichen des Viertels hat mit mir gearbeitet. Aber auch sie brauchen Anregungen, um etwas anderes zu tun, als nur fernzusehen.
Wie kam das Projekt an?
Es gibt keine Freizeitangebote in dem Viertel Bourtzwiller und auch in der Stadt Mulhouse gibt es nicht viel. Es gibt ein paar Diskotheken. Aber für Araber ist es sehr schwer, reinzukommen. Wenn fünf oder sechs zusammen dort hingehen, kommen sie niemals rein. Auch deswegen hatten sie Interesse für das Labor und mit dem „telefon arab“ [blitzschnelle Nachrichtenübermittlung d. Red.] hat es sich sehr schnell herumgesprochen. Die meisten Jugendlichen waren aus dem Maghreb. Außer Joel, er war der einzige Schwarze. Später kamen auch Türken dazu. Die Jugendlichen sind gerne gekommen. Sie waren dankbar für das Angebot.
Wie viele Jugendliche haben mit Ihnen gearbeitet?
Es gibt mindestens vierzig, die ihre 35 Franc für den Kurs bezahlt haben. Es ist sehr, sehr wichtig, dass die Jugendlichen etwas bezahlen, denn dann schätzen sie es mehr. Insgesamt haben über fünfzig mitgearbeitet.
Kamen mehr Mädchen zu den Kursen?
Ja. Am Anfang. Aber schon bald war es gemischt.
Wie sind die Themen der Fotos entstanden?
Einige habe ich vorgeschlagen. Zum Beispiel das Thema Aggression in der Umwelt oder das Thema Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen. Aber es gibt kein einziges Bild, wo Jungen und Mädchen in Beziehung treten. Es gab ein Foto, wo Jungen und Mädchen darauf waren, aber der Bruder des fotografierten Mädchens hat das Bild gestohlen. Auch mein Thema Aggression hat nicht funktioniert. Für mich war die Aggression in der Umwelt spürbar. Zum Beispiel durch ein ausgebranntes Auto vor dem Fenster. Aber die Jugendlichen haben so etwas überhaupt nicht gesehen.
Sie sehen ihr Viertel also mit anderen Augen?
Ja. Was uns schrecklich erscheinen mag, ist für sie noch lange nicht schrecklich. Zum Beispiel: Der Bahnhof von Mulhouse war für mich furchtbar, aber die Jugendlichen sagten, wir mögen unseren Bahnhof.
Gab es denn überhaupt einen fotografischen Zugang zum Thema Agression?
Gar nicht. Ich schlug vor, etwas abstrakt zu fotografieren, von mir aus einen Pitbull. Sie könnten die Kamera auf den Boden legen und das Maul eines Pitbulls fotografieren oder ein Bild von einem bewaffneten Polizisten machen. Aber nein. Das Thema Aggression hat nicht geklappt.
Vielleicht war es ja Ihre Erwartungshaltung, Ihr Vorurteil, denn die Bilder der Jugendlichen sind nicht aggressiv, sie sind eher harmonisch ...
Möglich, aber am Anfang waren die Fotos trotzdem ein Spiegel des Lebens im Viertel. Also Araber fotografieren Araber. Der Blick blieb immer im eigenen Ghetto, den eigenen Grenzen, gefangen. Ich versuchte die Jugendlichen rauszulocken mit Themen wie Krankenhaus-Notaufnahme, Gefängnis oder Fasching.
Was waren die Themen der Jugendlichen?
Familie, Sport, Freunde oder ihre Handys. Mit Handy vor Mercedes war ein besonders beliebtes Motiv. Ich habe sie immer aufgefordert, etwas anderes zu fotografieren. Vielleicht heiratet eine Schwester oder sonst ein Ereignis in der Umgebung. Bei 36 Bildern auf einem Film gab es vielleicht dreißig, wo ein Mädchen nur ihre Katze fotografiert hat. Drei Bilder von ihrer Schwester sind dann zusätzlich entstanden, weil ich gesagt habe, ich möchte gerne etwas anderes sehen. Und dabei kam dann was Tolles raus.
Und die Körperbilder in der Sammlung?
Das war der Schwarze, der diese Fotos fotografiert hat. Er hatte weniger Tabus.
Also finden sich die kulturellen Tabus in den Fotos wieder?
Na klar. Schwierig war beispielsweise das Thema Sport. Da ging es darum, Körper zu fotografieren, und die Mädchen haben keine Körper fotografiert, außer vielleicht den Körper der Schwester.
Die Bilder sind teilweise perfekt. Haben Sie die Jugendlichen auch in Fototheorie unterrichtet?
Nein. Nur wie man mit der Kamera umgeht. Diese Jugendlichen hatten vorher keine einzige Ausstellung gesehen, sie hatten mit Fotografie nichts am Hut, das ist keine Kunst für sie. Sie machen Fotografie, wie sie es spüren. Sie haben ohne Absicht fotografiert. Vielleicht waren die Absichten, zu einer Gruppe zu gehören und ein gemeinsames Ziel zu verwirklichen. Für die Jugendliche ist es sehr wichtig, etwas Konkretes zu machen, beispielsweise ein Bild mit nach Hause zu nehmen und den Eltern zu zeigen. Das war ihr Erfolgserlebnis. Ich habe in dieser Beziehung viel von ihnen gelernt.
Was denn?
Vom Leben in diesen Vierteln. Ich hatte eine Paranoia wie die meisten Mittelstandsfranzosen. Ich war sicher, die räumen meine Wohnung aus. Doch das Leben im Viertel ist nicht so schlimm, wie die Taxifahrer immer sagen. Ich habe viel Positives erlebt. Es wundert mich nicht, dass die Jugendliche Fernsehteams, die dort filmen wollen, mit Steinen bewerfen, weil immer nur ein bestimmter Ausschnitt ihrer Realität gezeigt wird. Das verfälscht. Ich ging in das Viertel um zu fotografieren, aber ich selbst habe kein einziges Foto gemacht. Denn plötzlich schien mir alles, was früher exotisch war, vollkommen normal.
Und die Sicht der Jugendlichen auf ihr Viertel ist unverfälscht?
Auf jeden Fall anders. Authentischer. Und die Fotos, die Artikel über ihre Fotografie und die Ausstellungen, das war eine Anerkennung ihrer Arbeit und ihrer Realität. Die Jugendlichen waren stolz zu zeigen, dass sie etwas Konkretes und Positives machen können, weil sie immer abschätzig zu den Arabern gezählt werden. Deshalb ist es sehr wichtig, dass diese Bilder Anerkennung fanden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen