Zahlen, die schnell vergessen sind

Konjunkturprognosen sind wichtig für Fachleute und Steuerschätzung. Das Meinungsklima in der Öffentlichkeit beeinflussen sie wenig

BERLIN taz ■ Vernichtender hätte die Kritik der Konjunkturforscher kaum ausfallen können: Die „hektischen Sparmaßnahmen von Bund und Ländern“ ließen keinen Gestaltungswillen erkennen, monierten die sechs führenden deutschen Wirtschaftsinstitute und prognostizierten einen Anstieg der Arbeitslosenzahlen um 300.000. Das war im Jahr 1996. Gemessen daran dürfte das jetzige Frühjahrsgutachten geradezu als euphorisch zu bezeichnen sein – was der rot-grünen Koalition allerdings wenig nutzen wird. Im Zentrum der Berichterstattung steht die Tatsache, dass ursprüngliche Wachstumserwartungen jetzt gedämpft werden müssen. Und so lautet die Botschaft: Die Regierung steht schlechter als erwartet da.

Im Blick auf Meinungsumfragen gibt es für die Koalition dennoch keinen Grund zur Verzweiflung. Zwar beherrschen die Gutachten der Institute zweimal im Jahr die Schlagzeilen – aber die Öffentlichkeit zeigt für dieses Zahlenwerk ein kurzes Gedächtnis. Prognosen von Konjunkturforschern sind für die Fachleute und für die Steuerschätzung von langfristiger Bedeutung. Nicht für das Meinungsklima. Politiker können daran nur auf eine einzige Art und Weise etwas ändern, und das ist ihnen nicht anzuraten: wenn sie sich von günstigen Vorhersagen so begeistern lassen, dass sie die vielschichtige Analyse der Gutachten in allzu populäre Sprache übersetzen und daraus ein schwer einzuhaltendes Versprechen ableiten. Das beste Beispiel: die Ankündigung Helmut Kohls im Jahr 1996, die Zahl der Arbeitslosen bis zum Jahr 2000 zu halbieren.

Dieses Versprechen war ein grober politischer Schnitzer. Kaum ein anderer Satz ist Kohl im Wahlkampf so oft um die Ohren gehauen worden. Es gab gute Gründe dafür, dass die Bevölkerung die leichtfertige Zusage nicht so schnell vergaß. Der Hinweis auf die Jahrtausendwende, verknüpft mit einer gefährlich leicht überprüfbaren Rechnung, verlieh dem Versprechen einen doppelten symbolischen Gehalt. Symbole bleiben länger im Gedächtnis haften als Zahlen.

Aus dieser bitteren Erfahrung seines Vorgängers scheint Gerhard Schröder gelernt zu haben. Er will seinen Erfolg nur ganz allgemein an der erfolgreichen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen. Angesichts der Abwanderung von ausländischen Arbeitskräfte, der steigenden Zahl von Frührentnern, der sinkenden Zahl der Aussiedler und der Möglichkeit vieler ABM-Maßnahmen im Wahljahr ist dieses Ziel selbst bei düsteren Prognosen der Konjunkturforscher erreichbar.

So erfreulich es für die Regierenden auch sein mag, dass die Öffentlichkeit kein langfristiges Interesse an ungünstigen Vorhersagen zeigt, so unerfreulich ist es andererseits, dass sich die Bevölkerung auch für die Ursachen eines ungünstigen Wirtschaftsklimas nur wenig interessiert. Hinweise auf eine Krise in Asien, steigende Ölpreise und eine Schwäche der US-Wirtschaft helfen einem Kanzler im Wahljahr wenig.

Von einer Bundesregierung werden keine Erklärungen erwartet, sondern die Erfüllung von Wünschen. Deshalb interessieren sich häufig nicht einmal die Politiker für die Empfehlungen der Wirtschaftsforscher. 1990 warnten alle Gutachter davor, den Umtauschkurs beim Anschluss der DDR auf 1 zu 1 festzulegen. Zu Recht, wie sich inzwischen gezeigt hat. Damals aber wollte von diesem Rat niemand etwas wissen. Oskar Lafontaine, der von einer übereilten Währungsunion abriet, gilt im kollektiven deutschen Gedächtnis heute nicht als Prophet, sondern als Feind der Einheit. Die Wirtschaftsforscher haben eben wirklich nur zweimal im Jahr das Wort. Und dann reden sie immer über die Zukunft. BETTINA GAUS