In der Schusslinie

Fast täglich gibt es in Hebron Schießereien. Palästinenser verlassen ihre gefährdeten Häuser. Die Siedler träumen von einer Eroberung Hebrons

aus Hebron SUSANNE KNAUL

Die Wandtapete mit den muslimischen Pilgern in Mekka ist voller Einschusslöcher. Sie bilden einen Bogen, der genau über der Moschee ausläuft. Die Wohnung liegt voller Schutt, die Gardine im Wohnzimmer wird nur noch von einer einzigen Schraube gehalten. In den Fensterrahmen liegen Sandsäcke, doch sie schützen nichts mehr: Das Haus von Faris Abd-el Asis Abu Sneineh steht leer. In ruhigen Zeiten kann man, auf dem Balkon sitzend, den Blick ins Tal genießen. Doch schon seit Wochen vergeht kaum ein Tag, an dem nicht geschossen wird, von beiden Seiten. Die Kugeln, die vor knapp zwei Wochen ein jüdisches Baby töteten, wurden von Abu Sneineh aus gefeuert.

Die Familie von Faris gehört zu den Wohlhabenden in der Stadt. Sie besitzt mehrere Häuser in dem Viertel, das ihren Namen trägt: Abu Sneineh. Bis Ende Oktober wohnten Faris und seine Brüder in ihren Häusern in der ersten Reihe auf dem Hügel, genau in der Schusslinie der israelischen Soldaten, die unten, im Zentrum der palästinensischen Stadt, ein paar hundert jüdische Siedler bewachen. Doch dann wurde, rund einen Monat nach Beginn der „Al-Aksa-Intifada“ Anfang Oktober, der Vater von Faris in seinem Wohnzimmer erschossen. Da verließen die Abu Sneinehs ihre Wohnungen und zogen zusammen in ein Haus, das vor den Schüssen der Soldaten geschützt liegt und in dessen Erdgeschoss Faris einen Kramladen betreibt. „Jetzt schlafen wir alle hier, im oberen Stockwerk“, sagt der 28-Jährige und deutet mit dem Finger nach oben. „Fünf Familien in einem Raum. Ich bleibe meistens hier unten, weil nicht genug Platz für alle ist.“ In einer Ecke des Ladens hat er seine Matratze zusammengerollt.

Faris schimpft über das schlechte Geschäft. Die Arbeit in den Gewächshäusern der Familie wurde schon vor Monaten eingestellt, ebenso die Geflügelzucht. „Wenn es noch einen Monat so weitergeht, muss ich zumachen.“ Von Zeit zu Zeit kommen Schulkinder und kaufen für einen Schekel (ca. 50 Pfennig) Süßigkeiten. Fares schiebt die Münzen gedankenlos in eine Ecke des Tisches, ohne nachzuzählen. Ein paar Schekel mehr oder weniger ändern an seiner Situation ohnehin nichts. Seine Frau geht tagsüber in das Haus der Eltern zurück, um dort zu kochen und Wäsche zu waschen. Auch tagsüber werde geschossen, berichtet Faris und zündet sich nervös eine Zigarette an: „Aber wir haben keine Wahl.“

Seit dem Hebron-Abkommen von vor fünf Jahren ist die Stadt in zwei Verwaltungsbezirke geteilt. H1 (Hebron 1) ist der palästinensische Teil, H2 hingegen – etwa ein Fünftel der Stadt, in dem 400 Juden und 40.000 Palästinenser leben – steht unter israelischer Sicherheitskontrolle. Der Hügel von Abu Sneineh liegt im palästinensischen Gebiet an der Grenze zur H2-Zone. Um in das Tal zu gelangen, muss man Umwege fahren, denn die israelischen Soldaten sperren die Hauptstraßen, um palästinensischen Scharfschützen die Flucht in die H1-Zone zu erschweren.

Auf dem Hof der Siedlung Abraham Avinu, wo die tödlichen Schüsse auf das Baby fielen, sitzen junge Frauen mit Kinderwagen. Im Sandkasten spielen ihre Kleinen, als sei nie etwas passiert. Der Hof ist in Richtung Abu Sneineh vollkommen ungeschützt.

„Wir haben das Gefühl, ausgeliefert zu sein“, sagt David Wilder, der Sprecher der Siedler in Hebron. Er schimpft über das Verhalten der israelischen Armee, „die nichts tut“, und über die Regierung von Ariel Scharon. „Die Ideallösung wäre, alles zurückzuerobern“, sagt er. Zumindest Abu Sneineh müsse wieder unter jüdische Kontrolle fallen, denn sonst „wird es für uns keine Sicherheit geben“. Wenn die Armee reagieren würde, wäre das laut Wilder der Anfang vom Ende der Gewalt. Doch bislang schauten die Soldaten nur zu. Wilder schließt nicht aus, dass die Siedler nicht eines Tages selbst aktiv werden. „Hier tragen alle Männer eine Waffe, und auch einige unserer Frauen.“ Vorläufig „begnügen“ sie sich damit, zu randalieren und von Zeit zu Zeit einen palästinensischen Laden in Brand zu setzen.

„Mit den Juden aus Beerschewa oder aus Tel Aviv würden wir klarkommen“, meint Faris. „Aber diese hier sind Müll.“ Nach dem Massaker in der Ibrahim-Moschee vor sieben Jahren, als der jüdische Arzt Baruch Goldstein 30 betende Muslime tötete, hätten sie gedroht, das sei „erst der Anfang“. Um Frieden in die Stadt zu bringen, müssten die Siedler gehen. „Es wäre schon ausreichend, wenn sie nach Kirjat Arba umziehen würden.“ Die Siedlung Kirjat Arba liegt unmittelbar am Stadtrand. „Wenn sie Abu Sneineh besetzten, wäre das das Ende von Hebron.“