: Gottvertrauen und Geschwisterliebe
Kenneth Lonergans Film „You Can Count on Me“ schildert sensationell unaufgeregt den Alltag einer Alleinerziehenden
Sollte sich in hundert Jahren mal einer für das Filmschaffen unserer Zeit interessieren, dürfte er über eine Menge verlorener Väter stolpern. Doch merkwürdig: Die allein erziehenden Mütter, die ja irgendwie zum Thema gehören, spielen meist nur recht lästige Nebenrollen. In den Vordergrund geraten sie höchstens, wenn sie der dramatischen Vatersuche im Weg stehen.
Der New Yorker Theatermacher Kenneth Lonergan wollte das nicht mehr mit ansehen. Also hat er einen Film über eine allein erziehende Mutter gemacht und dem Vater die schäbigste Nebenrolle von allen zugewiesen. Sonst sind alle nett zu Sammy, die als Angestellte einen achtjährigen Sohn großzieht. Das Auftauchen ihres leichtlebigen Bruders schafft keine neue heilige Kernfamilie und macht ihr Leben zwischen Arbeit und Kind nur unwesentlich dramatischer. Sensationell ist nämlich nur die Unaufgeregtheit, mit der Lonergan diese Alltagsgeschichte aus einer amerikanischen Kleinstadt inszeniert hat.
Dem nach Moral und Pathos klingenden Titel zum Trotz können die Geschwister dieses Films eines gerade nicht: aufeinander zählen. Sammy (Laura Linney) und Terry (Mark Ruffalo) sind als Waisen aufgewachsen, weil die Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Dann ist Terry abgehauen, weil er das ewige Mitleid der Kleinstädter nicht mehr ertragen hat. Sammy hat sich dort eingerichtet, in den grün wuchernden Catskill Mountains nahe New York. Jeden Morgen bringt sie ihren Sprössling zum Schulbus. Wenn sie Rat braucht, geht sie zum Pfarrer.
Für Terry ist dieses Leben genau die gemütliche Grube, in die er nie geraten wollte. Der lange Vermisste ist nur gekommen, weil er knapp bei Kasse ist. Damit kränkt er Sammy zutiefst. Den Unterschied zwischen den beiden kann Lonergan in einfache Bilder fassen: Terry ist ein Slacker, der seine paar Kröten lose in der Hosentasche trägt und eine Glasplatte auf der umgestürzten Stereobox für einen Tisch hält. Sammy setzt zum Autofahren eine Brille auf und arbeitet in einer Bank. Was diesen Ausbund an Gewissenhaftigkeit dazu bringt, Terry für eine Weile den Sohn anzuvertrauen, liegt demnach irgendwo zwischen Geschwisterliebe und Gottvertrauen. In „You Can Count on Me“ entstehen die Konflikte aus unterschiedlichen Einstellungen und Erwartungen ans Leben, die sich in Gesichtern und Gesprächen spiegeln.
Die Charaktere treiben die Handlung voran, ohne dass eine übergeordnete Dramaturgie nachhelfen müsste. Wenn Terry den kleinen Rudy gegen jede Anweisung in die Billardhölle ausführt oder ihm das Hämmern beibringt, folgt er seinem sicheren Instinkt zur Verantwortungslosigkeit. Das ist unvermeidbar komisch, aber eigentlich geht es hier um verschiedene Lebensmodelle, an deren Gleichberechtigung Lonergan nicht rüttelt. So versteht man Sammys Zorn und freut sich im nächsten Moment, wenn sie sich von Terry anstecken lässt. Im Verhältnis zu ihrem pedantischen Chef lässt sie sogar jede Vorsicht fahren. Sie verweigert sich nicht nur der vorgeschriebenen Bildschirmfarbe. Sie ordnet auch ihr Privatleben neu und schläft mit ihm. Matthew Broderick darf sich als Filialleiter endlich mal locker machen und bleibt doch derselbe bemitleidenswerte Unsympath wie immer.
Linneys Darstellung sorgt dafür, dass sie beim permanenten Rollenwechsel zwischen tapferer Mutter, romantischer Chaotin und wehrhafter Angestellter jederzeit Integrität bewahrt. Übrigens erfragt Sammy erst danach den aktuellen Standpunkt der Kirche zum Ehebruch. Und tut es wieder. Während es die beiden im Motel treiben, singt eine Country-Sängerin „I am the other woman in your husband’s life“. Es gibt verdammt ehrlichen Country. So ist auch dieser Film. Er zeigt eine Welt, die nach Amerika aussieht, nicht nach Hollywood. Es geht um Überzeugungen und den Puritanerglauben an Dinge, die sich ändern lassen, und solche, die man akzeptieren muss. Aber nur insofern sich Religion im Verzicht äußert, hat Lonergans Film auch etwas Religiöses. Er besteht ganz beiläufig auf seiner Nachdenklichkeit und Ernsthaftigkeit im Umgang mit Menschen und ihrem Alltag, ohne zu predigen. In der Ruhe liegt die Kraft, heißt es. Und in der Einfachheit eines kleinen Films manchmal ganz schön viel Wahrheit. PHILIPP BÜHLER
„You Can Count on Me“. Regie: KennethLonergan. Darsteller: Laura Linney,Mark Ruffalo, Rory Culkin u. a. USA2000, 116 Min.
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