: Göring trägt gerne Toga
Ein Dokudrama stellt in Haifa Nazigrößen als fast normale Menschen dar – erstmals in Israel. Vergleiche mit dem jüdischen Vorgehen gegen die Palästinenser sind durchaus erwünscht
von ANTJE BAUER
„He, Rosenberg, bring mir noch eine Portion Hoummous mit!“, ruft es vom Tisch. Der Mann im schwarzen Ledermantel, der vor der Theke Schlange steht, nickt. Vorsichtig balanciert er dann den öligen Teller zum Tisch, seine Schaftstiefel knarzen. Kurz darauf ist die Tischgesellschaft wieder zurück auf der Bühne.
Das Stadttheater von Haifa zeigt ein Dokumentardrama über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Auf der immer gleichen Bühne zeigt eine Leinwand das Bild einer zerstörten Stadt. „Nürnberg 1945“ steht darauf in dicken Lettern. Die Hauptfiguren sind die Nazigrößen Hermann Göring, Wilhelm Keitel, Alfred Rosenberg, Hans Frank und Albert Speer. Sie sagen das, was die Angeklagten während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse 1945/46 gesagt haben, wortgetreu – ergänzt nur durch Bemerkungen, die der Psychiater G. M. Gilbert aufschrieb, der die Angeklagten während der Prozesse begutachtete.
Hinter den Angeklagten stehen ihre Zellen: sparsam möblierte Tannenholzsärge, die daran erinnern, dass die Protagonisten mit Ausnahme von Hitlers Architekt Albert Speer schließlich zum Tode verurteilt wurden. Doch während ihr unrühmliches Ende durch das Bühnenbild immer präsent bleibt, werden diese Nazis, anders als sonst in Israel üblich, nicht nur als brüllende Rohlinge dargestellt. Der Naziideologe Rosenberg hat Bücher in seiner Zelle, Generalfeldmarschall Keitel, Hitlers Kriegsherr, bietet der Staatsanwältin ein Glas Whisky an, und Hitlers rechte Hand, Hermann Göring, trägt gerne Toga und spielt zwischendurch mit einer Modelleisenbahn. „Es ist das erste Mal in Israel, dass Nazis auf der Bühne nicht kritisiert werden“, sagt Rodié Kozlowski, der Hans Frank, den Generalgouverneur von Polen, spielt. „Hans Frank war Jurist, und ich habe auch Jura studiert. Mit vielem kann man sich identifizieren.“
Genau das war die Absicht von Regisseur Yigal Ezrati. „Ich will dem Publikum zeigen, dass die Nazis sich die Zusammenarbeit mit dem Bösen nicht ausgesucht haben. Sie sind nach und nach ein Teil davon geworden“, sagt er. „Ich möchte meinem Publikum beibringen, dass man manchmal nein sagen muss.“ Ganz neu ist dieser Ansatz nicht. Die „neuen Historiker“ wie etwa Moshe Zimmermann haben schon vor einigen Jahren eine heftige Debatte entfacht, als sie das jüdische Selbstbild als Opfer in Frage stellten und das jüdische Vorgehen gegenüber den Palästinensern mit dem verglichen, was Nazis im „Dritten Reich“ den Juden antaten. Die aufgeregte Diskussion darüber verblieb jedoch auf der akademischen Ebene. Nun wird die These via Theateraufführung unters Volk gebracht, und das mitten in einer neuerlichen Intifada, in der jegliche Kritik am israelischen Verhalten als Verrat gebrandmarkt wird.
Der Skandal blieb erstaunlicherweise aus. Das Publikum besteht aus Schulklassen und Kompanien von Soldaten, die geschlossen in das Stück geführt werden. In den Debatten, die sich an die Aufführungen anschließen, kritisiert schon mal ein Lehrer, dass die Nazis auf der Bühne zu gut wegkommen. Und Soldaten fragen, wieso aus den scheinbar normalen Menschen solche Ungeheuer geworden sind. An einem anderen Ort wären die Debatten wohl virulenter, doch in Haifa ist man toleranter als anderswo in Israel.
Den Schauspielern freilich hat es zugesetzt, dieses Stück zu spielen. Alle haben sich aufgrund dieser Arbeit mit der jüngeren Geschichte befasst, haben sich erneut mit dem Grauen des Holocaust konfrontiert. Und jeder interpretiert das Stück anders. Rodié Kozlowski, mit 24 Jahren der Jüngste der Truppe, hat Freunde in Deutschland. „Wir hören dieselbe Musik, wir schreiben uns E-Mails“, sagt er. Dass der Holocaust nur den Deutschen zuzutrauen sei, niemandem sonst, das glaubt er nicht. Für den 55-jährigen Abraham Selector, der den Alfred Rosenberg spielt, ist es hingegen ausgeschlossen, dass er als Jude sich mit einem Nazi identifiziert – auch wenn seine Kollegen ihn jetzt nur noch „Rosenberg“ rufen. „Wenn auf der Leinwand die Leichenberge gezeigt werden, muss ich immer weggucken. Denn wenn ich hinsehe, höre ich auf, Rosenberg zu sein und werde zu Selector.“ Einen Schauspieler gibt es, der seine Rolle genießt: „Ich fühle mich stark, wenn ich einen Nazi spiele“, sagt der Palästinenser Norman Issa. „Vielleicht, weil ich mich sonst hier in Israel immer als zweitklassig fühle.“
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