normalzeit: HELMUT HÖGE über die Liebe
Stressed to fuck
Das haben wir nicht gewollt – als wir die sexuelle Befreiung aufs Panier hoben und Schweinereien in den Kinderläden bis hin zu Falken-Feriencamps in Schweden begünstigten: dass jetzt immer mehr Männer ihre gepiercten Ischen in Swinger-Clubs zerren oder in den Kitkat-Club, wo man sie bedrängt, ihre Schlüpfer auszuziehen, woraufhin die Männer sie befummeln – und dann wird das Ganze gefilmt. Diese Kitkat-Club-Videos sind inzwischen der Hit in den Sexkinos, vor allem in Westdeutschland, wo sie das sauerotische Klima in der neuen deutschen Hauptstadt bezeugen.
Die Gang-Bang-Pornos, in denen eine Frau von mehreren Männern, bis zu 223, hintereinander gevögelt wird, sind schon fast out. Dafür erfreuen sich die Quasi-Home-Videos einer alten Ruhrpott-Frohnatur steigender Beliebtheit, in denen dieser junge Mädchen dazu überredet, sich in ihrem Studio vor laufender Kamera auszuziehen, um sich dann mit einem Dildo zu befriedigen. Die Mädels müssen dabei so tun, als würden sie das äußerst unwillig machen, aber schließlich und endlich doch nur allzu gerne.
Dazu passt, dass Berliner Politiker jetzt die Love Parade ins offizielle Berlin-Veranstaltungsprogramm aufnehmen wollen – um sie „abzusichern“. In den letzten Jahren verteilte die BVG an die Love-Parade-Besucher bereits Präservative, von anderer Seite sorgte man für Ecstasy in rauhen Mengen: Sex and Drugs and Technomusik – nun als offizielles kommunalpolitisches Angebot, um nicht der 250 Millionen Mark verlustig zu gehen, die die Love-Parade-Jugendlichen, die übrigens auch immer neonazistischer werden, in der Stadt ausgeben. Das ist alles nicht nur äußerst unappetitlich, sondern auch unmoralisch. Wie konnte es dazu kommen?
Das Fischbüro in der Köpenicker Straße, in dem einst Alltagsforschung in Form von Performances betrieben wurde, besaß einen Luftschutzkeller, wo gelegentlich Partys stattfanden. Einmal wollte man auch tagsüber – und draußen – feiern. Das war die erste Love Parade – 1989. Sie wird seitdem als Demonstration angemeldet. Bei der ersten war der politische Aspekt noch insoweit vorhanden, als die 100 Teilnehmer auf dem Kurfürstendamm wie früher immer mal wieder losrannten, nur dass sie dabei nichts mehr skandierten. Ein demoerfahrener Polizist hatte sie darauf aufmerksam gemacht: „Ihr müsst gehen, wenn ihr demonstrieren wollt“. Auch die bis heute beibehaltene „Abschlusskundgebung“ verdankt sich seinem weisen Rat. Dadurch, dass sich zunächst noch viele Schwule und Lesben beteiligten, entwickelte sich rasch das Styling: Military- und Camouflage-Bekleidung, Adidas-Anzüge, selbst gemachte Raver-Klamotten . . .
Gleichzeitig mit den Modemachern wurden die Ost-Jugendradios auf die „Raver“ aufmerksam. Auch die erste große Techno-Party, in einem Schwimmbad, fand in Ostberlin statt. Die Polizei hielt diese Partys anfänglich für eine Art „Satanskult“, aber dann ergriff der schnelle Beat auch immer mehr junge Polizisten.
Als Masse bestimmend wurde jedoch – wie DJ Maruscha ihn nannte: „der Ostraver“. Ähnlich wie in sozialen Bewegungen kam es auch bei der Love Parade zu mehreren Spaltungen und Verratsvorwürfen: 1992 ging es um „Kommerz versus reine Lehre“ – die Presse sprach von einem „Technokrieg“.
Im Jahr darauf kriselte es in der Veranstaltungs-GmbH, wobei es um „Pragmatismus versus Religion“ ging. Die Love Parade war inzwischen zu einem riesigen „Medienhype“ geworden: „Und die Masse schneller als der Spirit gewachsen“, wie einer der Geschäftsführer sich ausdrückte. Westbam avancierte derweil zu einer Art „Techno-Bundessprecher“. Marusha landete mit „Over the Rainbow“ einen Bravo-Superhit – und wurde deswegen scharf kritisiert: „Eigentlich habe aber nicht ich die, sondern haben die mich verraten“, meinte sie.
1999 stieg die Pornobranche ein, und die Berliner Wasserwerke sorgten für Wet-T-Shirt-Contests. Gleichzeitig nahm neben den Psychodrogen der Alkoholkonsum zu, so dass die Anmachen immer aggressiver wurden – bis hin zu Massenschlägereien. Diese zunehmende Brutalisierung wird nun vom Senat quasi abgesegnet. Es kann nur in einem Gang-Bang enden – dem größten der freien Welt vermutlich.
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