: Mach mir den Fernseher
Ist doch alles supi! Der historische Prozess soll eben woanders stattfinden. Luk Perceval gelingt mit Tschechows „Kirschgarten“ am Schauspiel Hannover eine Komödie über die Tragödie der Ignoranz
von CHRISTIANE KÜHL
Der Teebeutel sah aus wie ein gewöhnlicher russischer Teebeutel. Aber Jepichodow ahnte, dass er für etwas stand, das über das Gewöhnliche hinauswies. Als er den Kessel Heißwasser in der Hand hielt, war ihm mit einem Mal alles klar – schließlich sagt man nicht umsonst, das Schicksal beutele einen. Dieser Teebeutel war sein Schicksal. Sein Schicksal war das des Gebeutelten. Die russischen Bauern waren befreit, die Industrialisierung hatte eingesetzt – und er, der Kontorist, war nichts als ein unglücklich Verliebter. Da fragte der Teebeutel: „Was machst du denn mit deinem Leben?“ Und Jepichodow hatte keine Antwort. Und, schlimmer: Während er die Geschichte der missratenen Erleuchtung erzählt, zeigt Dunjascha, die Angebetete, drei Meter hinter ihm am Flipper Jascha ihre blanken Brüste.
„Der Kirschgarten“, Tschechows letzte Arbeit, bevor er 1904 an Lungentuberkulose starb, ist eine Komödie über die Tragödie der Ignoranz. Luk Perceval lässt in seiner für das Schauspiel Hannover erarbeiteten Fassung keinen Zweifel daran. Die Inszenierung beginnt mit einem Auftritt des greisen Dieners Firs, der bei Tschechow am Ende steht. Seit er laufen kann, hat Firs auf dem Gut mit dem Kirschgarten gedient, ist freiwillig Leibeigener geblieben, hat aus Liebe zu seinen Herrn die Knechtschaft gepriesen. Man hat ihn benutzt und gemocht und bei der Versteigerung des Hauses offenen Auges übersehen. „Sie sind weg. Mich haben sie vergessen. Macht nichts.“ Da lacht er, aber es klingt nicht lustig. Ist es auch nicht. Ignorant sind die Gutsbesitzerin Ljubow, ihre Töchter Anja und Warja, ihr Bruder Leo und die ganze verarmende Adelsgesellschaft jedoch nicht nur diesem Relikt der alten Zeit gegenüber, sondern vor allem ihrer aktuellen eigenen Situation. Ljubow und Anja sind aus Paris zum Gut zurückgekehrt, weil die steigenden Zinsen den Erhalt unmöglich machen. Schon ist die Zwangsversteigerung angesetzt, doch alle weigern sich, mit dem Fakt umzugehen. Man feiert, palavert und gibt Geld aus, das keiner mehr hat. Hübsch eingerichtet in der Illusion und einer heilsamen Portion Selbstmitleid, soll der historische Prozess eben woanders stattfinden.
In Hannover geht die Blindheit noch einen Schritt weiter. Nicht allein die böse, mittlerweile globale Ökonomie wird ausgeklammert, zur Sicherheit ignoriert man auch die eigenen Ängste und Bedürfnisse. Alles supi! Mach noch mal ein Polaroid! Hauptsache, es wird ununterbrochen gequatscht, und dann kann man ja auch immer rauchen, trinken oder ein wenig vögeln. Sehnsüchte ersticken ist nicht schwer. Einfach gut drauf sein. Mach mir den Fernseher!
Dass es hier keinen Kirschgarten gibt, zeigt Katrin Bracks Bühnenbild deutlich. Im Ballhof stehen ein Billardtisch, ein Flipper, ein paar selbst gezimmerte Holzsessel und drum herum nichts als die schwarzen Wände des Theaters. Was der Garten sein könnte, zeigt sich allein im Sprechen über ihn: ein Augenblick der Stille. Eden ist der Ort, wo die ganze Familie die Klappe hält.
Der Garten als Hort der Kindheit, als eifersüchtig gehüteter Zipfel eines Ichs, das einem entglitten ist, spielt keine Rolle mehr. Marion Breckwoldts Ljubow hat nichts Sentimentales. Da sitzt keine feingliedrig gealterte Gutsherrin, die ihre Heimat verliert; ihr lauter, ordinärer Auftritt in Kunstlederjacke hat eher Neureichen-Appeal. Als schließlich Zementmischer im Garten stehen, um Ferienhäuser im Auftrag des neuen Besitzers zu bauen, will auch beim Zuschauer kein Schmerz aufkommen: Ist doch vernünftig, dass jemand aus Besitz Profit schlägt. Und was der ewige Student Petja (Moritz Dürr) zwischendurch über soziale Ungleichheit und Globalisierung erzählte, ging im allgemeinen Rauschen unter. Das ist die neue Zeit, 1900, 2001. Luk Perceval ist mit einem wunderbaren Ensemble leichterhand eine moderne Übersetzung geglückt.
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