: Wer ist schon gern uncool?
betr.: „Management der Triebe“, taz.mag vom 21./22. 4. 01
Es ist en vogue, einen direkten Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Reden über Sex und dem Verhalten im Bett herzustellen. Der Artikel von Barbara Dribbusch ist da nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das Problem der Sexualwissenschaft ist jedoch, dass sie sich mit Befragungen begnügen muss. Befragungen haben aber den gravierenden Nachteil, dass sie erheblich vom öffentlichen Reden abhängen. Wer ist schon gern uncool, wenn man auch cool sein kann. Wenn ein Popstar wie Britney Spears in der Öffentlichkeit die „freiwillige Jungfräulichkeit“ zur Mode macht, dann herrscht in dieser Gesellschaft ein anderes Klima als vor 35 Jahren, als es unheimlich cool war, Sex zu haben. Wie peinlich, wenn die Angeberei herauskommt.
Der entscheidende Wandel in der Sexualmoral besteht also nicht im zunehmenden Ausplaudern, sondern darin, dass Sexualität von etwas Verbotenem zu etwas Gebotenem geworden ist. Zwei mögliche Formen der Abweichung sind dann die „freiwillige“ und die „unfreiwillige“ Jungfräulichkeit.
Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“ hat die „unfreiwillige Jungfräulichkeit“ zum Thema gemacht. Es wird ein beruflich erfolgreicher Mann im mittleren Lebensalter beschrieben, der sexuell erfolglos ist. Der Erfolg dieses Kultromans hat sicherlich dazu beigetragen, dass inzwischen Talkshows Jagd auf „männliche Jungfrauen“ machen, weil heute nicht mehr der „one-night stand“ die Sensation ist, sondern neben der „freiwilligen“ auch die „unfreiwillige“ Nichtteilhabe an der sexuellen Demokratie.
[...] Wenn Dribbusch das Liebesideal mit den gestiegenen Scheidungsraten in Verbindung bringt, dann ist das nur die halbe Wahrheit. Die angeblich so stabilen Vor-68er Zeiten kannten „italienische Scheidungen“, weil Scheidung rechtlich nicht in dem Ausmaß möglich war wie seit den 70er-Jahren. Der größte Unterschied dürfte deshalb darin liegen, dass rechtliche Veränderungen und das öffentliche Reden über Sex das offen gelegt hat, was sich vorher nur jenseits der öffentlichen und statistischen Sichtbarkeit abspielte.
Die Rede von der „Single-Gesellschaft“ verstellt offenbar den Blick darauf, dass wir in einer Paar- und Familiengesellschaft leben. Im Jahr 1978 wurde der „Single“-Begriff in Deutschland popularisiert. Es war gleichzeitig das Jahr mit den wenigsten Geburten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und nicht zuletzt fand damals jene Transformation des Sexualdiskurses statt, der sich seit dieser Zeit etabliert hat. Diese Tyrannei-der-Lust-Debatte lässt sich – nebenbei bemerkt – erstaunlich gut für die politisch angestrebte Bevölkerungspolitik funktionalisieren. Vom Single zum „bevölkerungspolitischen Blindgänger“ ist es dann nicht sehr weit. BERND KITTLAUS, Eppelheim
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