Bodenständig 2001

Es gibt kein geregeltes Leben, aber doch ein Pop-Leben jenseits von „Big Brother“, Blitz und Babs: Der Kulturwissenschaftler Jochen Bonz sucht mit seiner Pop-Anthologie „Sound Signatures“ nach den wahrhaft existenziellen Wahrheiten von Pop

von GERRIT BARTELS

Glücklich kann sich schätzen, wer als Herausgeber eines Pop-Readers so einen ersten Satz hat: „Das Wort Pop kennt keinen Artikel.“ Der Satz stammt von dem Schriftsteller Andreas Neumeister, er steht in der von Jochen Bonz zusammengestellten Anthologie „Sound Signatures“, und er ist so klar, richtig und eindeutig wie sonst nicht so viele Sätze und Äußerungen, die von Pop und seinen angeschlossenen Welten und Kulturen handeln.

Gerade in den letzten Jahren hat es da ja zunehmende Verwirrung gegeben: Alles ist Pop, Pop ist alles. Oder auch nichts. Pop ist flüchtig wie ein Duft, schön wie eine Blume, schrecklich wie ein Horrorfilm. Inzwischen ist es mit Pop wie mit dem Wetter: launisch, aber unabänderlich; alle glauben, drüber reden zu können und zu müssen, und die meisten wissen, dass vieles nicht mehr stimmt mit Pop. (Ja, ja die globale Klimaerwärmung.)

Die ganzen Pop-Autoren, die die Literatur bevölkern (und eigentlich keine Literatur sind, ja, diese zerstören), die Fernsehsender, die ihre eigenen Popstars und anderen Müll produzieren, der Medienkanzler, Becker, Beckmann, Bohlen und Co: Die Popkultur rächt sich da gerade an sich selbst, weiß die SZ, sie hat es seit Elvis nicht anders gewollt. Da ist es hohe Zeit, dass auch die Zeit eine ganze Feuilleton-Aufschlagseite und mehr für „zehn Thesen zur Krise des Pop“ frei räumt und Thomas Assheuer Pop rät, sich auf sich selbst anzuwenden. Genau. Und: Da bekommt man den Eindruck, dass die Krise des Pop genau in solcherart Betrachtungen ihren Höhepunkt erreicht. Das gute alte Bildungsbürgerfeuilleton schlägt zurück.

Um in solche anschwellenden Bocksgesänge einzustimmen, dafür liegt nun wiederum dem Bremer Kulturwissenschaftler Jochen Bonz die Sache mit Pop und dass dieser mal die Stimme des Anderen war und für ein Nicht-einverstanden-Sein stand, zu sehr am Herzen. So geht er auch gar nicht auf die seltsamen Auswüchse von Pop ein, sondern spricht in seinem Vorwort davon, dass „Pop heute für viele nur eine weitere Facette ihres Lebens darstellt“, während er für andere der „zentrale Anhaltspunkt“ ist; dass auf der einen Seite im Pop „sich heute alle zu Hause fühlen“, es auf der anderen Seite aber auch den „Pop im stark identifizierenden Sinne“ gebe und man dort den Anspruch auf „existentielle Wahrheiten“ habe. Klar, wo Bonz da die von ihm versammelten 21 Autoren und Autorinnen verortet, die in „Sound Signatures“ ihre „unterschiedlichen Positionen im Feld des Populären markieren“.

Bonz geht es nicht darum, ein Unbehagen an der Popkultur zu formulieren, wie es vor fünf Jahren der Sammelband „Mainstream der Minderheiten“ getan hat, sondern er will – bodenständig 2001 – eine Phänomenologie des Pop erstellen, ein vielgestaltiges Bild aus „Popsplittern“ schaffen. Und das ist ihm gelungen.

Programmatisch dürfte dabei sein, dass die Beiträge in den vier großen Kapiteln („Pop Appeal“, „Gegenwart zwischen heute abend und morgen früh“, „die Sprache der Popkultur“, „Science-Fiction“) für sich genommen schon ziemlich divergieren und nur unbedingt Bezüge zueinander aufweisen. Heike Blümners Kritik an der Männerdomäne Pop neben Susanne Binas Text über die aktuelle Bedeutung des DDR-Undergrounds; Tom Holerts Jeff-Mills-Porträt neben Sebastian Hammelehles Kurzgeschichten aus dem Hamburger Nacht- und Medienleben – formal kennt „Sound Signatures“ keine Grenzen, Literatur und Musikkritik, Essays und Seminararbeiten stehen friedlich beisammen und unterscheiden sich vielgestalt in ihren Inhalten.

Der Ton der meisten Beiträge aber ist angenehm nüchtern. Es wird, sieht man mal von dem sentimentalen Früher-war’s-besser-Text von Fee Magdanz über Mode und Musik ab, weniger Trauerarbeit geleistet als die aktuellen Gegebenheiten akzeptiert und sich an einer Bestandsaufnahme ohne Lamentos versucht: Herr Diederichsen schaut in die Zukunft der (digitalen) Tonträger, Ulf Poschardt reflektiert die Interaktionen von Pop und Geld, Sascha Kösch versucht nachzuweisen, dass die elektronische Musik eine neue Poptheorie braucht. Und Gabrielle Klein zeigt, dass man auch aus den „Bausteinen einer globalisierten Mainstream-Popkultur“ noch eine Menge positiver Erkenntnissen herausziehen kann. Sie beschäftigt sich mit den Pokémons und Tamagotchis und findet gerade in ihnen als „abstrakten Geschöpfen virtueller Welten“ die Widerständigkeit des eigenen Körpers wieder, „dem als Ort der Orientierung und der Selbstvergewisserung wieder ein zentraler Stellenwert zukommt“.

Am aufschlussreichsten für die Wechselspiele von Hochkultur und Pop ist der Beitrag „Medien, Abfall, Literatur“, in dem der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher darlegt, wie sich Popliteratur und Feuilleton gegenseitig belauern und befruchten und warum Rainald Goetz nicht ohne seinen Strauß sein kann (und umgekehrt).

Da passt es nur gut, dass Thomas Assheuer Pop-Krisen diagnostiziert, während in derselben Ausgabe auch der eigentliche Pop-Spezialist der Zeit, Thomas Groß, den Sieg der Natürschützer über die Love Parade so kommentiert: „Von der Popkultur lernen heißt siegen lernen.“ Und was wohl Joachim Kaiser von dem in Aussicht stehenden Rummel um die französische Band Air denkt? Noch vor den Musikzeitschriften hatte die SZ einen langen Text über ein Air-Konzert in London im Blatt. Don’t believe the hype? Von wegen! Pop ist tot, kein Freispiel mehr? Wohl kaum.

Wenn man dann ein Buch wie „Sound Signatures“ gelesen hat, weiß man: Da geht noch was. Es gibt kein geregeltes Leben, aber doch ein Pop-Leben jenseits von „Big Brother“, Blitz und Bobbele. Man muss das bloß mal wieder kommunizieren. Und wie schreibt doch Andreas Neumeister: „Im Idealfall ist Pop populär und subversiv zugleich. Im Idealfall tritt der Idealfall tatsächlich ein. Im Idealfall kommt klasse Musik in die Charts.“

„Sound Signatures. Pop-Splitter“. Hrsg. von Jochen Bonz. edition suhrkamp, 310 S., 21,90 DM; heute, 21 Uhr, WMF, Ziegelstraße 5: Diskussion mit Thomas Meinecke, Andreas Neumeister, Fee Magdanz, Mercedes Bunz u. a.