: Unter Denkmalschutz
Sie wäre gerne mehr „mit jungen Leuten“ ins Gespräch gekommen: Elisabeth Leithäuser (86), die älteste taz-Genossin
von PHILIPP GESSLER
Elisabeth Leithäuser hat kein Interesse an der großen Auftaktveranstaltung des taz-Kongresses am Freitagabend zu diesem Thema: „Wie wollen wir leben? Das interessiert mich nicht mehr“, sagt sie trocken, „ich habe kein Leben mehr vor mir.“ Aus Höflichkeit möchte man widersprechen, aber eigentlich hat sie Recht: Die Berlinerin wurde geboren, als in der Reichshauptstadt noch Pferdekutschen über das Pflaster ruckelten und kurz bevor der Kaiser seine Untertanen zu den Waffen rief: Im Juli wird sie 87 Jahre alt. Elisabeth Leithäuser ist die älteste taz-Genossin, eine „unglücklich liebende taz-Genossin“, wie sie sagt.
Warum? Wer das wissen will, sollte sich aufmachen nach Schmargendorf, einem gutbürgerlichen Berliner Viertel. Die Dame wohnt in einem Gebäude des Philharmonie-Architekten Hans Scharoun („Wir stehen unter Denkmalschutz“) in einer ruhigen Straße. Ein kleines Glöcklein bimmelt im vierten Stock, wo ihre Einzimmer-Wohnung liegt. Elisabeth Leithäuser schließt die Tür, die von oben bis unten mit Aufklebern der Friedensbewegung bedeckt ist. Seit 42 Jahren lebt sie hier auf 48 Quadratmetern. Ins Auge fällt eine Sammlung von Glocken, die fast eine ganze Wand ihres Wohn-, Schlaf- und Schreibzimmers schmückt. Ein buddhistischer Reisealtar steht aufgeklappt auf einem Sofa, darüber das Foto eines Zen-Lehrers. An der Wand hängt eine kleine Ikone der Gottesmutter Maria mit ihrem Kind, neben dem Bett steht eine Barockstatue des heiligen Johannes.
Hier lebt eine Individualistin. Eine, die nur ihren eigenen Weg ging. Aufgewachsen bei wohlhabenden Adoptiveltern, habe sie dennoch „immer auf der Seite der Schwachen“ gestanden, sagt sie. Und das sei auch die Erklärung dafür, warum sie taz-Genossin ist, erklärt sie. Früh habe sie sich in einer kommunistischen Jugendgruppe engagiert – auch noch illegal in der NS-Zeit. Das hätte sie beinahe ins KZ gebracht. Ein Hochverratsprozess gegen sie und zwei Genossinnen ging glimpflich aus, da erstaunlicher Weise ein Gestapo-Mann zu ihren Gunsten als Zeuge aussagte. Doch an eine Karriere war unter den Nazis nicht zu denken. Elisabeth Leithäuser schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Bis zum Kriegsende am 8.Mai 1945 – „der glücklichste Tag in meinem Leben“, wie sie sagt.
Danach machte sie als Journalistin Karriere – es habe damals eben nur wenige begabte und unbelastete junge Leute gegeben, sagt Elisabeth Leithäuser mit gesundem Selbstbewusstsein. Zunächst arbeitete sie beim Rundfunk, dann bei einer Zeitung, wo sie Abteilungsleiterin wurde, schließlich, nach einer Zeit als Autorin, als Krankenpflegerin und Leiterin eines Hauses zur Rehabilitation psychisch Kranker. Zwei Mal verheiratet war Elisabeth Leithäuser, aber Fragen danach bügelt sie ab: Das sei doch „uninteressant“, sagt sie. Sie sei bisexuell. Immerhin eine Tochter ist einer dieser Ehen erwachsen, Elisabeth Leithäuser hat mittlerweile Enkel und Urenkel. Die Fotos zweier süßer Mädchen hängen in ihrer Wohnung nicht weit vom buddhistischen Lehrer.
Doch über ihre Familie zu erzählen, damit will sie keine Zeit verlieren – wichtig ist ihr die Politik: Die 68er-Bewegung habe sie regelrecht als Befreiung empfunden: „Dass ich das noch erleben darf“, habe sie sich gesagt. Nach ihrer Pensionierung habe sie sich in der Friedensbewegung engagiert. Bis vor drei Jahren demonstrierte sie jeden Freitag vor der Gedächtniskirche für den Frieden. Vor allem aber der Frauenbewegung galt ihr Engagement: Solange es ihre Gesundheit erlaubte, war sie in einer Gemeinschaft älterer Frauen aktiv, „Offensives Altern“ nannte sich die Gruppe.
Auf ihren Stock gestützt, ganz in Schwarz gekleidet, geht Elisabeth Leithäuser über die Flure des Hauses am Köllnischen Park, wo der taz-Kongress stattfindet – vor allem die Veranstaltungen zur 68er-Bewegung, zur Männer-Frauen-Problematik und zur Bildung interessieren sie. „Er macht sich seinen (guten, farbigen) Text durch sein Vorlesen kaputt“, steht auf einem Zettel, den sie bei einer Lesung rüberschiebt. Fehlende Professionalität ist ihr ein Gräuel: Ihr taz-Abo hat Elisabeth Leithäuser vor einiger Zeit gekündigt, da ihr der Sprachstil nicht mehr gefiel. Gleichwohl hängt sie an der Zeitung: „Rührend“ sei ihr Kampf gegen den derzeitigen „Turbokapitalismus“, lobenswert ihr Einsatz für „die klassischen sozialistischen Forderungen“. Und könnten sich denn all die jungen Leute auf dem Kongress dieses teuere Blatt überhaupt leisten, fragt die alte Genossin besorgt. Elisabeth Leithäuser vermisst auf dem Kongress die Möglichkeit, mehr mit diesen „intelligenten jungen Leuten“ ins Gespräch zu kommen.
Aber eine „reine Freude“ war ihr der Vortrag des taz-Autors Reinhard Kahl zur Zukunft der Bildung und zum Wert des Fehlers. Begeistert nickt sie an vielen Stellen dem Publizisten zu – etwa bei seiner Aussage, dass nur jener Neues erschaffen könne, der bereit sei, Fehler zu machen. Kahl zitiert eine Sentenz des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges, der mit 85 Jahren, kurz vor seinem Tod, schrieb: Er würde gerne mehr Fehler machen, wenn er noch einmal leben dürfte. Auch weniger vernünftig würde er sein. Elisabeth Leithäuser klatscht heftig, packt ihren Stock und macht sich auf den Weg zum Aufzug. „Also, ich habe nicht gelebt wie Borges“, sagt die alte Dame. Jetzt habe sie Lust auf einen Wodka – aber so etwas gebe es hier ja wohl nicht. „Wie wollen wir leben?“ Vielleicht so wie Elisabeth Leithäuser.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen