: Mit dem Rolli rückwarts
■ Zentrale Forderung am Protesttag gegen Diskriminierung behinderter Menschen: 500 neue Jobs bis 2002 / Nachmittags kam die Ohrfeige: Die Abschaffung des Landespflegegeldes geht voran
Ausgerechnet gestern kam der Schlag ins Gesicht. Ausgerechnet am Protesttag gegen Diskriminierung behinderter Menschen erfuhren die, um die es ging, dass die Sozialdeputation in der kommenden Woche der Abschaffung des Landespflegegeldes zustimmen soll. Dabei stand die Landesleistung, die Behinderte für die Mehrkosten bekommen, die ihnen wegen ihrer Behinderung entstehen, ursprünglich nicht im Mittelpunkt des Tages. Doch als die Mitglieder des Behindertenparlaments am Nachmittag von der aktuellen Deputationsvorlage erfuhren, änderten sie kurzerhand die Tagesordnung. Eine „Unverschämtheit“ sei die Vorlage und ein „maßloser Vertrauensbruch“, so Wilhelm Winkelmeier vom Verein „Selbstbestimmt leben“. Eine mündliche Anhörung der Betroffenen, die versprochen war, habe es nie gegeben. Matthias Weinert, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Hilfen für Behinderte, erklärte, Bremen mache sich so „zu einem Vorreiter in einem sehr unsozialen Bereich.“ Zudem sei eine eingebrachte Petition auf Nichtbefassung ignoriert worden. Und Karoline Linnert, die Fraktionsvorsitzende der Grünen, erklärte: „Ich hoffe, unsere Kraft wird reichen, diesen Quatsch zu verhindern.“
Arbeits- und Sozialsenatorin Hilde Adolf (SPD) konnte nur von „keiner leichten Entscheidung“ sprechen und davon, dass sich Bremen das Landespflegegeld „angesichts der Haushaltslage“ nicht mehr leisten könne.
Hauptthema des Tages waren die Arbeitsplätze. 500 neue Jobs für Schwerbehinderte sollen bis zum Jahr 2002 in Bremen entstehen – so lautete die zentrale Forderung des gestrigen Tages. Offiziell sind derzeit in Bremen mehr als 1.700 Menschen mit Schwerbehinderungen arbeitslos. In der Werkstatt für Behinderte arbeiten etwa 2.300 Menschen. Dabei zahlt Bremen drauf, deshalb müssten auch sie eigentlich in der Statistik auftauchen.
Hauptthema des Tages war die Forderung nach 500 neuen Arbeitsplätzen in Bremen bis zum Jahr 2002. Doch Druck auf Betriebe lässt sich nur wenig machen. So konnte das Bremer Bündnis für Arbeit nur von einem „Aufruf“ an alle Betriebe berichten, mehr Schwerbehinderte einzustellen.
Die Firma Integra ist dabei, sich als Modellprojekt ein bisschen dem Ideal des Miteinanders anzunähern. Hier arbeiten zu gleichen Teilen behinderte und nichtbehinderte Menschen zusammen. Die Projektleiterin Antje Johannsen berichtet: „Derzeit arbeiten elf ehemals langzeitarbeitslose Schwerstbehinderte nach Tarif im Bereich der Grünflächenpflege“. Die Baugruppe des Modellprojektes renoviert Schulen und streicht auch mal ein Polizeigebäude. Die gehörlosen Mitarbeiter kommunizieren mit den Hörenden mittels Gebärdensprache. Johannsen: „Uns ist sehr daran gelegen, mehr Aufträge der Stadt zu erhalten. Die öffentliche Hand sollte mit gutem Beispiel vorangehen, damit Behindertenquoten erfüllt werden“.
Bisher waren Betriebe verpflichtet, auch Schwerbehinderte zu beschäftigen – die so genannte Pflichtquote. Die lag bisher bei sechs, seit neuesten aber bei fünf Prozent. Wer die Quote nicht erfüllt, muss zahlen. Mit der Senkung wolle man den Druck von den Betrieben nehmen und so einen Anreiz zu mehr Integration schaffen, argumentierte gestern Hilde Adolf. Die Behinderten zweifelten, dass dies der geeignete Weg sei.
Kassandra Ruhm sprach bei der Kundgebung auf dem vollen Marktplatz von einer Gesellschaft, die auf nicht-behindertes Leben ausgerichtet ist. Sie hat Glück gehabt: Die Psychologin wird bald Beratungen für Frauen mit Behinderungen anbieten. Sie sitzt selbst im Rollstuhl. Ihr Arbeitsort soll das Frauentherapiezentrum sein, wenn das seine Räume im Beginenhof eröffnet. Sie wird noch mehr Glück brauchen. C.Wi./sgi
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