: Kalligrafie und Gemeindegesang
■ Kammerphilharmonie, Solist Zehetmair, Dirigent Holliger: Alles göttlich in der Glocke
Klarinettistin Sabine Meyer ist eingefleischter Fan des vor neun Jahren verstorbenen Ungarn Sándor Veress. Heinz Holliger, Spitzen-Oboist, renommierter Komponist, diesmal aber „nur“ als Dirigent fungierend, offenbar auch. Vor dessen Violinenkonzert möchte er „ein biss-chen was“ sagen. Aber was ist schon ein biss-chen, wenn das Herz überfließt. Da erzählt Holliger, schwärmt Holliger, von den „ungarischen Klagegesängen“ der Sologeige mit ihren „reichen Verzierungen, die an japanische Kalligrafie“ erinnern und vom darunter pulsierenden „Herzschlag des Orchesters“, der fast so zäh und hartnäckig ist wie das Dauer-Ostinato in Ravels Bolero. Und er erzählt vom „leicht fliegenden Bogen“ des Solisten, der technisch so schwierig zu bewältigen ist. Und er erzählt vom Orchester, das am Ende des 1. Satzes dem Geiger seine Kadenz klaut und sie zelebriert „als wäre es eine Person, quasi wie ein Gemeindegesang“. Und dann erzählt er wieder vom Solis-ten, der die Spannung „kalt aushält wie eine Sprungfeder“, erzählt er von einem toccataartigen Gebilde, das „wie Bach sehr raffiniert kontrapunktisch“ geknüpft ist, erzählt von den sehr scharfen Synkopen, die sich jeder mathematischen Notierung entziehen und nach Intuition gespielt werden müssen...
Und überhaupt: „Alles ist hier sehr leicht zu hören und sehr schwer zu spielen.“ Zumindest der erste Teil des Satzes stimmt absolut. Allenfalls bei Strawinsky und Veress-Lehrer Bartók ist 20. Jahrhundert so süffig. Schöner kann man das alles nicht sagen und so spart Holliger dem Musikrezensenten viel Arbeit. Wenn man seine klugen, charmanten Metapherngebilde vergleicht mit den drögen, kalten Lehrbuchseminaren eines Justus Frantz, begreift man, warum der eine Musik lebt und der andere nur den Takt schlägt, manchmal sogar in Grund und Boden.
Ein kleines Ensemble wie die Kammerphilharmonie wird oft legitimiert durch die vielgerühmte Durchsichtigkeit des Klanges. Aber in Schuberts „Unvollendeter“ und vor allem bei Haydns Sinfonie Nr 70 nehmen sie es in Sachen Vehemenz und Volumen mit jedem doppelt so großem Orchester auf. Zwar überdeckt der verschmizt bis kauzig wirkende Holliger seine sich immer mehr ausbreitende Glatze durch gewagte, kunstvolle Haargebilde, in der Musik aber überdeckt er nichts. Die Ecksätze, die der 18jährige Haydn für seinen Dienstherrn Esterházy schrieb sind mit ihren hymnen- bzw marschfähigen Themen so staatstragend, dass man an einem feierlichen Ton nicht vorbeikommt. Und Holliger sucht immer wieder den großen Ton – und verlässt ihn schnell wieder ehe es ungut wird. Bei Schuberts Unvollendeter geht er immer wieder den Weg von mysteriöser Verhangenheit zum satten Strahlen, natürlich auch beim legendären Anfang. Laut-leise, leichtgetupft-legato, zupackend-verhangen, Gegensätze, auf denen natürlich jede Klassikinterpretation basiert, aber die Kammerphilharmonie macht's schon besonders lebendig.
Thomas Zehetmair, dessen Part gattungsuntypisch eher über dem Orchester schwebt als mit ihm kommuniziert, erweist sich als Gott. Aus Trillern macht er Zuckungen, aus krachendem Sturzflug des Orchesters taucht er mit elegischem Ton auf. Und auf den von Holliger gerühmten Synkopen und Punktierungen tänzelt er in allerunterschiedlichster Weise. Vergleicht man seinen Ton mit dem des Konzertmeisters – wahrscheinlich das warmherzigste, schönste Vibrato der Welt – wirkt sein Ton schlank, aber mit seiner unheimlich lebendigen Bogenführung – kurz hier noch eine kleine Schlussbeschleunigung, dort ein kleines Zaudern, ein sanfter Nachdruck – , schafft er ganze Gefühlskosmen.
bk
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