Statistisches

Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland wirklich? Liegt sie tatsächlich bei 9,5 Prozent aller Erwerbspersonen, also etwa 3,8 Millionen Menschen, wie die offizielle Statistik derzeit ausweist? Oder ist die Quote noch höher, da auch jene Siebenhunderttausend zu berücksichtigen wären, die in Umschulungs-, Fortbildungs- und AB-Maßnahmen „beschäftigt“ sind? Eine im Februar vorgelegte Studie des Bonner Sozialwissenschaftlers Meinhard Miegel kommt zu ganz anderen Schlüssen: Die Statistik sei irreführend, meint Miegel. In Deutschland werde Arbeitslosigkeit „sehr extensiv“ definiert. Tatsächlich arbeitslos seien lediglich 1,4 Millionen Menschen.

Statistisch gesehen wird die Arbeitslosenquote nach der Anzahl der „Erwerbsfähigen“ berechnet, zu denen die gesamte fünfzehn- bis 64-jährige Wohnbevölkerung zählt. Allerdings, rechnet Miegel vor, stehe aber große Teile der Fünfzehn- bis Neunzehnjährigen und der Sechzig- bis 64-Jährigen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung, weil Erstere sich noch in der Ausbildung und Letztere sich bereits im Ruhestand befinden.

Hinzu kommt, dass viele Arbeitslose nicht gleichzeitig Arbeitssuchende sind. So sind zum Beispiel sieben Prozent Schulabgänger, die sich arbeitslos melden, um in der Übergangsphase zur Ausbildung weiterhin Kindergeld zu erhalten. Viele jüngere Arbeitslose seien zudem leicht vermittelbar und benutzen ihren Status als Arbeitslose oft nur, um die Zeit zum nächsten Job zu überbrücken. Etwa sechs Prozent sind an Arbeitsangeboten grundsätzlich nicht interessiert, da es ihnen dadurch finanziell schlechter gehen würde, sie zum Beispiel Bankschulden, Alimente oder Unterhaltszahlungen leisten müssten. Weitere zwanzig Prozent sind über 55 Jahre alt oder krank und somit besonders schwer vermittelbar.

Die Arbeitslosenquote Schwerbehinderter betrug 1999 17,9 Prozent, obwohl offiziell ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Mit Hilfe der Schwerbehindertenabgabe kaufen sich viele Betriebe jedoch von dem Risiko frei, einen schwer kündbaren Behinderten einzustellen. Eine weitere Risikogruppe stellen ausländische Arbeitskräfte dar, da sie oft bloß über eine unzureichende berufliche Qualifikation verfügen und vorwiegend in Bereichen mit hohem Arbeitsplätzeabbau arbeiten. Demzufolge gehören zwei Drittel der aktuell arbeitslosen Bevölkerung zu den „Problemfällen“: Entweder suchen sie gar keine Arbeit oder sind schwer vermittelbar.

Arbeit gibt es nach Miegel indes genug. Auf dem Schwarzmarkt werde derzeit das Arbeitsvolumen von knapp sechs Millionen Vollzeitbeschäftigten angeboten und nachgefragt. Von den zwei Milliarden Überstunden, die Angestellte in Deutschland ableisten, ganz zu schweigen. Zudem liege die Zahl der offenen Stellen momentan bei etwa 1,5 Millionen, gesucht wird vom Lehrer über den Erntehelfer bis zum Zimmermädchen scheinbar alles. Trotzdem könnten diese Stellen nicht besetzt werden, da viele Schwierigkeiten hätten, sich verändernden technischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen anzupassen. Sie würden, heißt es in der Studie, auf den perfekt auf sie zugeschnittenen Arbeitsplatz warten, anstatt ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Darüber hinaus verteuere das Sozialstaatskonzept die Erwerbsarbeit in einem Maße, dass der Aufwand bei Neueinstellungen und Entlassungen zu hoch sei. Die Folge sei eine Stagnation des Arbeitsmarktes. Anbieter und Suchende fänden durch unterschiedliche Ansprüche und Erwartungen nicht zueinander. SUE HERMENAU