: Wenn nicht, dann nicht
Die neuerliche „Faulenzer“-Debatte zeigt vor allem eins: Das Bild, das wir von den aus der Arbeitsgesellschaft Ausgeschlossenen haben, ist voller blinder Klischees. Tatsächlich haben viele der „Überflüssigen“ für sich ein subkulturelles Lebensmodell gefunden, das hilft, mit der Abqualifizierung fertig zu werden. Es wird öffentlich gelebt, ist laut und selbstbewusst und gar nicht so passiv und kleinlaut, wie die neue Mitte sich die vermeintlichen Versager wünscht. Ein Streifzug
von ANDREAS WILLISCH
„Überall haben sie jetzt Zäune gebaut. Nicht einmal an die Mülltonnen kommt man mehr ran, weil keiner sehen soll, was da alles weggeworfen wird. Als noch offen war, haben sie mal kistenweise Bananen – die noch gut waren – in die Mülltonnen gekippt. Die hätte man doch verteilen können oder zur Suppenküche bringen. Und unsere Büchsen können wir auch nirgendwo mehr hinbringen.“ Die Frau zeigt einen Müllsack vor. „Hier der gelbe Sack“, sagt sie, „den bringen wir jetzt immer selber mit und sammeln alles auf und nehmen es mit.“ Seit Jahren kommt sie mit ihrem Lebensgefährten und dessen Schäferhund zum Kaiserpark. Der Kaiserpark ist eine Ecke an der Pappelallee im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg zwischen Kaiser’s Supermarkt und dem S-Bahn-Damm. Noch zu DDR-Zeiten wurde – als der Supermarkt noch Kaufhalle hieß – mit Betonsteinen eine Terrasse angelegt. Dort standen bis zum letzten Jahr noch einige alte Stühle, ein Tisch, auf den Boden war ein vier mal vier Meter großes Schachbrett gemalt worden. Gespielt wurde aber mit ganz normalen, kleinen Holzfiguren. Ganz selbstverständlich sei das, sagen die Leute vom Kaiserpark, und das Spiel funktioniere auch noch, wenn Spielfeld und Figuren so gegensätzlich seien.
Anfangs gab es von der Filialleitung des Supermarkts für Aufräumarbeiten schon mal eine Flasche Schnaps spendiert. Das ist vorbei, seit Kaiser’s die ungebetenen Dauergäste loswerden will. Die unnützen Kleinkunden sollen die umworbenen Kunden nicht stören. Der neu gebaute Zaun lässt nun nur noch einen schmalen Schlauch offen. Anstatt auf Stühlen sitzen sie jetzt auf ausgebreiteten Pappen, und vom Schachbrett sind nur noch verwaschene Farbreste übrig. Doch noch immer treffen sich hier jene, denen man ansieht, dass sie schon seit einiger Zeit keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen. Vor dem Supermarkt spielen sie Karten, unterhalten sich und sammmeln im Herbst die Nüsse, die von den Bäumen fallen.
Einer von ihnen hat gerade einen Alkoholentzug hinter sich – erzählt er. Deshalb sei es wichtig, dass man gegenseitig aufeinander aufpasst. „Wenn jemand mal drei Wochen fehlt, dann geht man mal vorbei, um zu sehen, was los ist. Der kann ja tot in der Wohnung liegen. Ehe die Nachbarn sich aufregen nach sechs Wochen, dass du stinkst ...“
Getränkeshops, Imbissbuden und Kaufhallen stellen nicht nur eine Nachschubquelle dar, für viele sind sie die einzige Sphäre, wo sie sich noch beteiligen können. Von der Erwerbstätigkeit der Arbeitsgesellschaft ausgeschlossen, bleibt ihnen noch der durch Sozialtransfers finanzierte Konsum als Integrationshilfe. Während die ganze übrige Gesellschaft hier nur kurz vorbeischaut, um einzukaufen, markieren sie hier symbolisch ihre Position, indem sie ihren Platz dauerhaft behaupten.
Wie rettende Inseln sind diese Haltemilieus über die Stadt verteilt. Im Osten mehr als im Westen, weil der Entlassungsschub viele zur gleichen Zeit erreicht hat und daher die gesellschaftlichen Stigmatisierungen nicht auf den Einzelnen allein verweisen konnten. Deshalb auch scheinen hier die Regeln eines ganz normalen Lebens noch nicht vollständig außer Kraft gesetzt zu sein. Solidarität, Ordnung und die Suche nach Gelegenheitsjobs sind hier noch auffällig selbstverständlich.
Im Kaiserpark wird jede Menge Bier aus Büchsen getrunken. Der Umgangston ist rau. Hier sind Gleiche unter Gleichen. Vor kurzem musste der vietnamesische Obsthändler seinen Stand aufgeben, weil die Bahn, auf deren Gelände er verkaufte, die Standgebühren erhöht hatte. Die Leute vom Kaiserpark hatten ein gutes Verhältnis zum Obstverkäufer. Sie passten auf seinen Stand auf, wenn er zur Toilette musste, und standen ihm bei gelegentlichen Anfeindungen zur Seite. Dafür gab es nach Feierabend eine Kiste Obst, denn Vitamine sind wichtig, sagen sie, und dass man zusammenhält. So renovieren sie sich gegenseitig die Wohnun
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