: „Wir erwarten vor allem Respekt“
In der jüdischen Gemeinde geht es um Geld, Strömungen, Säkularismus und Fundamentalismus. Rabbiner Dow Marmur über den Pluralismus des liberalen Judentums und den Versuch, Modernität und Judentum zu verbinden
taz: Rabbiner Marmur, wie ist das eigentlich zu erklären: Zwar nimmt das liberale Judentum weltweit zu, zugleich wächst aber der religiöse Fundamentalismus.
Rabiner Dow Marmur: Es gibt ein zunehmendes Interesse an Religion. Deshalb hat man das ganze Spektrum: von den Liberalen über das Zentrum bis zu den Extremisten.
Also ist das Wachsen der liberalen Bewegung auch eine Reaktion auf den zunehmenden Fundamentalismus?
Nein, es ist viel mehr eine Reaktion auf die Enttäuschung mit dem Säkularismus und Modernismus (modernity) – ebenso wie der Fundamentalismus. Aber der Liberalismus ist ein Versuch, beides zu verbinden: Modernität und Judentum.
Die liberalen jüdischen Gemeinden hier in Deutschland werden vom Zentralrat der Juden nicht gerade besonders akzeptiert.
Das ist ein Problem eines jeden Establishments, dass es nur schwer Neuerungen zulässt. Das ist schade. Aber wir werden uns durchsetzen. Das wird uns gelingen.
Bei dem Streit geht es auch um Geld, das die liberalen Gemeinden bekommen wollen: einen Anteil der Kirchensteuern und Bundesmittel.
Es geht immer auch um Geld. Wir sind unserem Charakter nach pluralistisch. Wir akzeptieren alle jüdischen Strömungen. Wir erwarten allerdings andererseits, mit Respekt behandelt zu werden, von Gleich zu Gleich. Wie bei all diesen Streitigkeiten ist das Finanzielle nur das offensichtliche Problem. Der hintergründige Aspekt dieser Angelegenheit beschäftigt mich. Ich will nicht in diese Geldgeschichten verwickelt werden. Wie bei jeder Ehe ist Geld stets bloß das vordergründige Problem. Die tiefer gehenden Probleme treiben mich um, also die Fragen nach der Pluralität und der Gleichheit.
Braucht das Judentum mehr als fünfzig Jahre nach der Schoah ein anderes, vielleicht stärker religiöses Fundament?
Es gab immer verschiedene Strömungen im Judentum. Ich weiß nicht, was das Judentum nötig hat. Juden müssen sich jedenfalls in verschiedenen Weisen ausdrücken können. Es geht nicht darum, was das Judentum braucht – weder Sie noch ich können das entscheiden. Aber wir wissen, dass die stärkste Strömung unter Juden weltweit die liberale ist.
Ist das Judentum in Deutschland noch zu sehr konzentriert auf die Schoah und nicht so stark auf die Religion, wie es sein sollte?
Ich denke nicht, dass dies eine Alternative ist. Ich bin ein Produkt der Schoah – ich komme aus Polen. Meine Frau hat ein Konzentrationslager überlebt. Die Schoah ist essenziell für mein Leben, aber nicht auf Kosten des liberalen Judentums.
Interview: PHILIPP GESSLER
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen