: Der Mensch als Objekt der Medizin
Andreas Kuhlmanns Analyse der gegenwärtigen Biopolitik ist knapp, klar, kenntnisreich – verständlich
Durch die Fortschritte in der Biomedizin fühlen sich die meisten Menschen überfordert. Einerseits werden täglich unglaubliche Fortschritte versprochen: schwere Krankheiten zu heilen, das Leben zu verlängern und alle Schmerzen zu lindern. Andererseits bringen die Neuerungen aus den Kliniken und Labors unser Selbstverständnis, unsere Ansichten von Zeugung, Geburt, Gesundheit und Tod gehörig durcheinander. Der Handlungsspielraum des Menschen scheint zwar fortwährend zu wachsen, gleichzeitig jedoch wandelt sich der Mensch dabei immer häufiger vom Handelnden zum Objekt: Er ist es, an dem immer gezielter Eingriffe und Manipulationen vorgenommen werden.
Der Philosoph und Journalist Andreas Kuhlmann hat sich der zahlreichen biomedizinischen Fragen zwischen Lebensanfang und Lebensende in einem gut verständlichen Buch angenommen. Er präsentiert einen breiten Fächer der Positionen und Argumente, wägt sorgfältig ab, was man etwa zur vorgeburtlichen Diagnostik, zur Forschung mit Embryonen oder zur Sterbehilfe meinen und denken kann. Er gewichtet die Überzeugungsstärke der jeweiligen Meinungen, leitet häufig ihren historischen Hintergrund und den kulturellen Kontext ab. Das ist zumeist kenntnisreich und wohltuend sachlich.
Kuhlmann legt überzeugend dar, dass die politischen Regelungen in liberalen Gesellschaften keineswegs unparteiisch getroffen werden, sondern auf bestimmten Wertüberzeugungen, moralischen Urteilen und Traditionen beruhen. Er entziffert den Begriff der „Pluripotenz“ (damit ist Vielseitigkeit, zurzeit besonders die Vielseitigkeit embryonaler Stammzellen gemeint) als Metapher für unsere Gesellschaft: So wie sich die Zellen des Embryos in einem frühen Stadium noch in allerlei Richtungen differenzieren können, so eröffnet auch unser Gemeinwesen dem Einzelnen vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten und überlässt ihm weit gehend die Wahl seines Lebenswegs.
So weit, so luzide und sachlich. Umso mehr überrascht Kuhlmann, wenn er den beschrittenen Pfad der nüchternen Erläuterung verlässt und einige krasse Werturteile fällt – etwa beim Umgang mit Teilhirntoten, Ganzhirntoten und Hirntoten zum Zwecke der Organtransplantation. Hier gleitet auch seine sonst so unpolemische Sprache ab, wenn er davon schreibt, dass Körper auf dem Operationstisch „malträtiert“ und „wie ein Kadaver“ ausgeweidet werden. Die Chirurgen träten nämlich an hirntote Patienten „mit einem Wunschzettel“ heran, bevor sie zum Skalpell greifen.
So skeptisch und abwertend sich Kuhlmann bei dieser Frage äußert, so offensiv und liberal argumentiert er, wenn es um die Forschung mit embryonalen Stammzellen geht. Den gesetzlichen Schutz für ein paar Zellhaufen sieht er in erster Linie einem deutschen „Verfassungsdogmatismus“ geschuldet. Das 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz hat, so Kuhlmann, einen „unzweideutig restriktiven und, was die Sanktionsandrohungen betrifft, rigiden Charakter“. Kuhlmann verlässt zumindest in diesen beiden umstrittenen Bereichen der Biopolitik seinen ansonsten sorgsam ausbalancierten Darstellungsgang.
Kann man ihm das vorwerfen? Wohl kaum. Bisher fehlt schließlich in Fachkreisen wie auch in der öffentlichen Debatte schlicht das Instrumentarium, um Utopien zu erörtern, die gleichzeitig uralte Menschheitsfragen auf- und angreifen, unseren Körper, unser Leben betreffen und dennoch häufig abstrakt, anwendungsfern und nur im Labor mit technischen Hilfsmitteln zugänglich bleiben. Vermutlich kollabiert angesichts der Fortschritte in Gentechnik und Medizin das Meinungswesen, da sich der Mensch in den biomedizinischen Fragen über den Menschen einfach keine distanzierte Meinung zu bilden vermag. Stellt man diese Schwierigkeiten in Rechnung, bringt Andreas Kuhlmann eine ganze Menge strittiger Fragen und Antworten auf den Punkt.
WERNER BARTENS
Andreas Kuhlmann: „Politik des Lebens, Politik des Sterbens, Biomedizin in der liberalen Demokratie“, 234 Seiten, Alexander Fest Verlag, Berlin 2001, 36 DM (18,41 EUR).
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