Marseille, mon amour

Jean-Claude Izzos Krimis sind hart und voller Wut. Der französische Bestsellerautor und Antirassist wird nun auch bei uns bekannt – posthum

von BJÖRN KERN

Die Sonne knallt auf die Stadt, als wäre es Hochsommer. Die Gassen führen steil hinauf und werden immer enger. Das „Panier“ auf dem Stadthügel ist das älteste Viertel von Marseille. Hier oben hat man einen Postkartenblick auf den Alten Hafen. Das ganze Viertel leuchtet in südlichen Farben. Kinder spielen Fußball, Jungen und Mädchen, Weiße und Farbige, sonst ist es still.

Fabio Montale ist im Panier aufgewachsen und erzählt eine andere Geschichte von Marseille. Eine von Hass, Gewalt und Tod. Dabei ist Fabio ein netter Kerl. Am liebsten würde er den ganzen Tag in Ruhe auf seiner Veranda sitzen, aufs Meer schauen und Stockfisch mit Aioli essen. Aber Fabio ist Polizist – da ist es mit der Ruhe nicht weit her. Nicht nur der alte Marseiller Hafen ist ein Haifischbecken voller sozialer Spannungen und ausufernder Kriminalität. Die ganze Stadt ist ein einziger Sumpf aus Bandenkriegen der Mafia, kriminellen Einwandererkids und rechtsradikalen Übergriffen. So zumindest sieht Marseille in Jean-Claude Izzos Kriminalromanen aus, deren Held Fabio ist.

Aber Izzo zeichnet auch das andere Bild von Marseille. Das von Freundschaft, Lebenslust und Liebe. Nur dafür lässt Fabio sich immer wieder in blutige Geschichten verwickeln. Fabio kämpft für ein Marseille ohne Rassismus.

Izzos „Marseilletrilogie“ hat in Frankreich Kultstatus erreicht, die Bücher verkauften sich mehrere hunderttausend Mal. Inzwischen schwappt die Begeisterung auch nach Deutschland über. Dieses Jahr wurde „Chourmo“, der zweite Teil der Trilogie, mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Und seit April gibt es endlich auch den dritten Teil, „Solea“, auf Deutsch.

Jean-Claude Izzos Bücher sind spannend, ja – aber keine normalen Kriminalromane. Sie sind eher ein Bekenntnis des Autors, eine ganze Weltanschauung. Fabio Montale ist keinesfalls nur ein begnadeter Spürhund, der Mord und Totschlag aufklärt. Fabio ist zuallererst ein sinnlicher Mensch, dessen Liebe so groß ist wie sein Hass. In Marseille ist beides vereint: Fabio liebt die Gewürze der Arabermärkte, wie er die korrupte Lokalpolitik hasst. Er liebt den Alten Hafen bei Sonnenuntergang, wie er wütend ist auf den Front National (FN), Frankreichs rechtsextreme Partei.

Izzo macht aus seiner Weltsicht keinen Hehl, er lässt Fabio jeden Kumpel aus seinem Adressbuch streichen, der eine rassistische Bemerkung gemacht hat. Wenn Fabio nach einem Mord auf eigene Faust recherchiert, behält er sein Wissen lieber für sich: Die Polizei steckt ja doch mit der Mafia unter einer Decke. Und wütend wettert Fabio gegen eine Öffentlichkeit, die kaum reagiert, wenn die Polizei einen Araber erschießt – während bei einem getöteten Franzosen die ganze Stadt aufheult.

Ein engagierter Autor, der zwischen politischer „Neuer Mitte“ und beliebigem Popgefasel in der Literatur die Linke nicht verrät, ist selten. Leider wird „Solea“ der letzte Krimi aus Izzos Feder bleiben. Jean-Claude Izzo ist im Frühjahr letzten Jahres vierundfünfzigjährig an Lungenkrebs gestorben. „Jean-Claudes Romane waren in der Tat eine weitere Art zu kämpfen“, sagt seine Witwe, Catherine Izzo. Denn gekämpft hat Izzo sein Leben lang, als Hungerstreikender während seines Militärdienstes, als Pazifist in der Kommunistischen Partei, als Chefredakteur der linken Zeitung La Marseillaise. „Er hoffte beim Schreiben eine gewisse Message zu transportieren. Das war ihm genau so wichtig wie sein Stil.“

Tatsächlich spürt man beim Lesen, dass hier kein abgebrühter Zyniker am Werk ist. Izzo hat selbst erlebt und erlitten, wovon er schreibt. Schließlich ist er als Kind eines italienischen Barmixers und einer spanischen Näherin in Marseille aufgewachsen. Umso härter kommt Izzos Wut in den Romanen zum Ausdruck. Genau das werfen ihm einige besonders sophistische Kritiker vor: Izzos Romane litten unter der Wut ihres Autors. Doch warum? Gerade Izzos eindeutige Positionierung hebt ihn aus der Masse postmoderner Beliebigkeit, die allem und nichts gerecht wird, hervor.

Wenn soziale Spannungen und menschliches Elend allzu hart werden, geht es Fabio wie seinem Schöpfer, er zieht sich zurück. Zu seinen Freunden, aufs Meer, zum Kochen. Dann erinnert Fabio sich wieder, „dass man in dieser Stadt trotz allem gern lebte und feierte. Dass das Glück jeden Tag neu geboren wurde.“ Nicht immer gelingt Fabio dieser Rückzug ins Private. Manchmal läuft er richtig heiß und übertreibt ein wenig. Alle Franzosen werden dann zu Rassisten und die Araber zu ihren Opfern. In „Total Cheops“ etwa wartet Fabios Freundin Leila gespannt auf das Ergebnis ihrer Magisterprüfung. Fabio hat die Arbeit gelesen und ist von ihr begeistert. Aber er fürchtet, dass seine Freundin durchgefallen sein könnte, „denn Leila war Araberin“. So wird die Université de Provence im Buch zu einem Haufen mobbender Rassisten.

Wolfgang Fink, Dozent an der wirklichen Université de Provence, ist darüber empört: „Das ist doch völliger Quatsch. Izzo zeigt in seinen Büchern wieder nur die schlechten Seiten, das rassistische Marseille.“ Tatsächlich lebten die verschiedenen Ethnien ziemlich friedfertig zusammen, meint er. Im Gegensatz zum Kosovo etwa sei das Vielvölkergemisch in Marseille nicht explosiv. „Izzos Bücher sind dagegen die reine Schwarzmalerei.“ Catherine Izzo ist da anderer Meinung: „Soweit ich diese Stadt kenne, glaube ich nicht, dass Jean-Claude übertrieben hat.“ Immerhin seien sie und ihr Mann mehrmals bedroht worden – von Fanatikern, die sich durch Izzos Literatur angegriffen fühlten.

Marseille – friedliches Vielvölkergemisch oder Stadt gewalttätiger Rassisten? Das Quartier de Belsunce, das Araberviertel von Marseille, ist Anhängern der rechtsextremen Bewegung ein rotes Tuch. Zugegeben, als Weißer kann man sich hier fremd fühlen – aber bedroht? Das Viertel ist fast so bunt und hektisch wie ein nordafrikanischer Souk. In Garagenmärkten ist alles zu kriegen. Neben Regenschirmen und Plastikblumenketten liegen Pizzabackgeräte, Fußballtrikots und edle Teeservice. Vor einem Uhrengeschäft debattieren und feilschen Männer mit kurzen schwarzen Haaren, Schnauzer und Jackett. Die Frauen sind zum Teil verschleiert. Einen Markt weiter nimmt ein Händler große bunte Teppiche von den Häuserwänden und hält sie für einen Kunden in die Sonne. Und auf den Ständen vor den Lebensmittelbasaren türmen sich exotische Kräuter und Gewürze. Es riecht nach Zimt, Muskat und Safran. Da ist es wieder, Izzos sinnliches Marseille.

Wer außer einer Hand voll verblendeter Rassisten soll damit Probleme haben? Izzos Antwort in „Total Cheops“: „Zu einem Problem wurden die Immigranten erst durch die Wirtschaftskrise. Je höher die Arbeitslosigkeit anstieg, desto mehr fielen die Einwanderer auf.“ Tatsächlich standen in den Siebzigerjahren plötzlich Scharen schlecht ausgebildeter Immigranten auf der Straße. Und Franzosen, die ebenfalls um ihre Arbeitsplätze bangten, hatten schnell ihren Sündenbock gefunden. Xenophobie und Rassismus machten sich breit.

Aber ist die Situation wirklich so hoffnungslos? Viele Einwanderer der zweiten und dritten Generation haben im Dienstleistungssektor Arbeit gefunden. Rehza Cohen, Pressesprecher im Marseiller Rathaus, lobt die derzeitige Lage: „Da Marseille als erste Stadt in Frankreich mit der Immigration konfrontiert wurde, hat sich die Stadt auch früh an die schwierige Lage anpassen können.“ Selbstverständlich gebe es immer wieder rassistische Übergriffe, aber die Integrationskraft der Stadt sei groß genug, um über solche Dramen hinwegzukommen. Das Projekt „Hoffnung Marseille“ symbolisiere die Harmonie zwischen allen Gemeinden, die in Marseille leben. Das Projekt versammelt Würdenträger der armenischen Gemeinde, der buddhistischen, katholischen, jüdischen, islamischen, orthodoxen und der protestantischen. „Das“, meint Cohen, „hilft, ein friedliches Klima zu schaffen.“ Vor bald einem halben Jahr wurde auch der „Baum der Hoffnung“ geweiht. Seitdem haben vor Ort über 350.000 Menschen ihre Unterschrift für Brüderlichkeit und Toleranz gegeben. „Das zeigt, dass diese Werte tief in der Stadt verankert und unsterblich gemacht worden sind.“

Eine Unterschriftenaktion schafft noch keine rassistisch motivierten Übergriffe aus der Welt, sicher. Aber wer, wie Fabio Montale zu schlechten Zeiten, nur noch das Elend sieht, wird Frankreichs spannendster Stadt auch nicht gerecht. Dafür ist sie viel zu schön. Natürlich wusste das auch Jean-Claude Izzo, der mit so mancher Übertreibung sicher nur seine Leser aufrütteln wollte. Und wenn Fabio nach einer Fahrt aufs Meer wieder zu sich kommt, erkennt auch er, dass das Glück „aus einer Ansammlung kleiner, unbedeutender Nichtigkeiten besteht: Ein Sonnenstrahl, ein Lächeln, Wäsche, die vor einem Fenster trocknet.“

Marseille ist voll solch schöner „Nichtigkeiten“. Noch schöner wäre es, wenn auch die Anhänger der Rechtsextremen einsähen, was Jean-Claude Izzo überzeugend auf den Punkt gebracht hat: „Marseille gehört denen, die es bewohnen.“

BJÖRN KERN, 23, studiert deutsche und französische Literaturwissenschaften in Tübingen und Aix-en-Provence. Sein Roman „Kipppunkt“ erscheint diesen Herbst bei dtv