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Kein „Hitler und seine Naziclique“

Die Darstellung der Naziverbrechen weist auch in den israelischen Schulbüchern einen deutlichen Wandel auf

Erst beglückten die Finkelsteins und Novicks die bundesdeutsche Öffentlichkeit mit ihren provokanten Thesen zu einer Wachstumsindustrie namens Holocaust, und nun bringt auch der Spiegel eine ganze Serie über „Hitlers langen Schatten“.

Die Vergangenheit? In der Bundesrepublik jedenfalls will und darf sie nicht vergehen. Doch wie verfährt die israelische Öffentlichkeit mit dem Thema Holocaust? Was lehren zum Beispiel israelische Schulbücher über den Völkermord?

Eine Analyse der verschiedenen Schulbuch-Generationen ergibt Erstaunliches: Ähnlich wie in Deutschland verhinderte auch in Israel in den Fünfziger- und Sechzigerjahren eine Mischung aus Verdrängung, Scham und Sehnsucht nach Normalität eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Es herrschte das große Schweigen – der Holocaust kam so gut wie gar nicht vor. Wo das Thema doch einmal behandelt wurde, erschöpfte sich die Darstellung in knappen Hinweisen auf „blutrünstige Raubtiere“, die durch „Taten des Teufels“ ein „Inferno“ entfesselt hatten.

Den ganz Kleinen wollte man derartige Beschreibungen zunächst ersparen. Holocaust-Schilderungen für jüngere Schulkinder endeten daher oft mit einem – völlig unhistorischen – Happy End. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte der kleinen Schula in einem Geschichtslesebuch: Mit Hilfe eines Zauberrings zertrümmert das Mädchen die Mauern des Ghettos, tötet einen Naziwächter und fährt auf einem Schiff singend Richtung Israel. Holocaust light? Für einen Mitarbeiter des Erziehungsministeriums schlicht die Notwendigkeit, Kindern „den Holocaust in seiner schönsten Form“ zu präsentieren.

All das änderte sich mit dem Eichmann-Prozess im Jahre 1961. Seit diesem Ereignis wird der Holocaust intensiv in israelischen Schulbüchern behandelt. Schon in den Lesebüchern des zweiten Schuljahrs lesen israelische Kinder nun ausführlich von den Gräueln der Nazizeit. Aber nicht nur quantitativ änderte sich die Darstellung in den Schulbüchern, auch inhaltlich verschoben sich die Akzente. Die dämonisierenden und emotionsgeladenen Schilderungen der frühen Jahre wurden zunehmend durch rationalere Beschreibungen ersetzt. Doch damit enden die deutsch-israelischen Gemeinsamkeiten. Denn inhaltlich gibt es gravierende Unterschiede. Besonders auffällig: die Behandlung der historischen Verantwortung.

Hier zerstören die hebräischen Schulbücher regelmäßig bundesdeutsche Nachkriegsmythen. Während in deutschen Schulbüchern die Beteiligung der Bevölkerung meist als gering eingestuft wird, erweitern israelische Schulbücher den Kreis der Täter erheblich. Von wegen „Hitler und seine Naziclique“ . . . In diesem Zusammenhang wird stets auch das „Nichts gewusst“ der Nachkriegsjahre zurückgewiesen: Angesichts der hunderttausenden von Verantwortlichen sei schlicht „undenkbar“, dass die breite Bevölkerung über die Verbrechen an den Juden nicht informiert gewesen wäre, erklärt ein Schulbuch schon 1971. Hinweise auf deutschen Widerstand fehlen dabei fast ganz.

Ein weiterer Unterschied betrifft die Wehrmacht. Während die deutsche Öffentlichkeit sich nur langsam vom Mythos der „sauberen“ Krieger befreit, sind die „Verbrechen der Wehrmacht“ in Israel seit geraumer Zeit unumstrittener Lehrstoff. Für aufgeregte Schlagzeilen hätte die Reemtsma-Ausstellung in Israel jedenfalls nicht gesorgt. Besonders bei der Behandlung des Warschauer Ghettos ist den israelischen Schulbüchern eine pädagogische Absicht anzumerken. Der jüdische Aufstand wird meist sehr ausführlich beschrieben – in einem Buch sogar auf vollen sieben Seiten. Ein neu veröffentlichtes Lehrwerk, das hierauf verzichtet, wird gegenwärtig harsch kritisiert. Vor allem in Schulbüchern der Siebzigerjahre wird der jüdische Widerstand dabei in direkten Zusammenhang mit den Kriegen Israels gebracht und vereinzelt sogar in einem Kapitel über den Unabhängigkeitskrieg behandelt. Die Ghettokämpfer erscheinen dann als Pioniere des Zionismus und als israelische Helden.

In den meisten Schulbüchern wird aber nicht Nazideutschland allein für den Holocaust verantwortlich gemacht. Regelmäßig findet sich auch Kritik an der alliierten Politik, vor allem an der Weigerung, Auschwitz zu bombardieren. Das mangelnde Engagement der Alliierten beweist für die Schulbücher unumstößlich die Notwendigkeit eines starken jüdischen Staats. Ein Beispiel für Michael Wolffsohns These vom Holocaust als „weltlich-politischer Identitätsstifter“ Israels. Dabei ist diese Verwendung historischer Inhalte für politische Zwecke auch in Israel nicht unumstritten. So kritisiert Tom Segev in seinem Standardwerk „Die siebte Million“ scharf die Darstellung des Holocaust in israelischen Schulbüchern. Anstatt humanistische Lehren zu verkünden, meint Segev, predigten die Werke „engstirnigen Chauvinismus“. Denn die Lehre des Holocaust bestehe in den Büchern einzig darin, dass der Völkermord „jeden Akt rechtfertigt, der zu Israels Sicherheit beizutragen scheint“. Die Vergangenheit – so viel ist sicher – auch in Israel wird sie so schnell nicht vergehen. MICHAEL BRÖNING

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