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Der afrikanische Traum

von DOMINIC JOHNSON

Der Traum ist so alt wie die afrikanische Unabhängigkeit: Ein geeintes Afrika, das nach den Worten des ghanaischen Freiheitshelden Kwame Nkrumah aus den 50er-Jahren den ihm gebührenden „Beitrag zum Frieden und Fortschritt der Menschheit“ leisten könnte. Heute entsteht formell auf Initiative des Libyers Muammar al-Gaddafi die einst von Nkrumah geforderte „Afrikanische Union“ (AU), ein Staatenbund aller Länder Afrikas, der den Kontinent politisch vereinen soll. „Endlich erreichen wir diesen Meilenstein, den wir schon so lange anpeilen – einen Meilenstein, der einen neuen Weg für die Realisierung unseres Potenzials und die Überwindung der vielen vor uns liegenden Herausforderungen öffnet“, jubelte Salim Ahmed Salim, Generalsekretär der jetzt zum Verschwinden verdammten „Organisation der Afrikanischen Einheit“ (OAU). Jahrzehntelang predigte die OAU die Vereinigung des Kontinents als Mittel des effektiven Kampfes gegen Kolonialherrschaft und Apartheid. Heute sind die Herausforderungen andere – und eher schwierigere.

Gaddafis Vorstoß

Immer mehr Länder Afrika stecken in bewaffneten Konflikten. Die 760 Millionen Einwohner des Kontinents bilden ein Achtel der Weltbevölkerung, erwirtschaften aber nur ein Hundertstel des Weltbruttosozialprodukts. 40 Prozent der Afrikaner leben in absoluter Armut, 50 Prozent können weder lesen noch schreiben, 60 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Die Ausbreitung von Seuchen wie Aids überfordert die Mittel afrikanischer Regierungen. Um das Weltbankziel einer Halbierung der Armut bis 2015 zu erreichen, müsste Afrikas Wirtschaft sofort um jährlich acht Prozent wachsen, und die Investitionsquote müsste auf unerreichbare 40 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung steigen. Aber Afrika gestaltet seine Wirtschaftspolitik nicht selbst, sondern sie wird von schwankenden Rohstoffpreisen, andauernden Handelsbarrieren der reichen Länder und von außen diktierten Schuldenerlassprogrammen vorgegeben.

Die Notwendigkeit einer stärkeren Zusammenarbeit der 53 afrikanischen Staaten, um afrikanische Interessen auf globaler Ebene besser zu vertreten, bildet daher seit einigen Jahren Kern fast jeder Grundsatzrede afrikanischer Präsidenten. Den Tenor fasste eine Resolution zusammen, die ein Gipfeltreffen afrikanischer Intellektueller in Senegal im vergangenen Juni beschloss: „Afrika muss Akteur statt Opfer der Globalisierung werden.“

Gaddafi wandelte diesen Wunsch als Erster in konkrete Zielsetzungen um. Zum 9. 9. 1999 berief er in der libyschen Stadt Sirte einen Afrikagipfel ein, auf dem er die Gründung der „Vereinigten Staaten von Afrika“ mit gemeinsamer Regierung als Ziel verkündete. Die afrikanischen Regierungen, von denen immer mehr auf libysche Entwicklungshilfe angewiesen sind, hörten brav zu und beschlossen auf dem nächsten turnusmäßigen OAU-Gipfel in Togo im Juli 2000 eine stark abgemilderte „Afrikanische Union“. Anders als in Gaddafis „Vereinigten Staaten von Afrika“ vorgesehen, erkennt die AU-Gründungsakte die Souveränität der Mitgliedsstaaten an und behält das überkommene OAU-Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten bei – mit Ausnahme der Möglichkeit, dass die Union als Ganzes gegen „Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in einem Mitgliedsland eingreifen darf. In möglichem Widerspruch dazu aber bekommt die AU jede Menge Gremien und Kommissionen, die konkrete Maßnahmen „in Gebieten von gemeinsamem Interesse“ beschließen können. Es wird auch ein afrikanisches Parlament und ein afrikanischer Gerichtshof gegründet.

Nach anfänglicher Enttäuschung übernahm Libyen rasch wieder die Initiative bei der Umsetzung dieses Konzepts, und Anfang März 2001 gab es in Sirte einen zweiten Afrikagipfel, der die Gründung der AU formell verkündete. Am 26. April war es dann soweit: Mit den Ratifizierungen der AU-Gründungsakte durch die Parlamente Südafrikas und Nigerias übersprang die Zahl der Ratifizierungen die zur tatsächlichen Entstehung der Union nötige Quote von zwei Dritteln aller Länder Afrikas – Marokko ausgenommen, das wegen des Westsaharaproblems schon der OAU nicht angehört. Wenn diese Quote erreicht ist, so sieht es die Gründungsakte vor, entsteht die Afrikanische Union 30 Tage später automatisch.

In den meisten Ländern des Kontinents herrscht jedoch eine gesunde Skepsis über die wahren Ziele des Libyers. „Die AU-Politik ist keine opportunistische Politik Libyens, um aus seiner Isolation auszubrechen“, wehrte Libyens Afrikaminister Ali Triki im November kritische Fragen ab. Der Verdacht ist nicht nur in Afrika stark, dass es Gaddafi, dessen Land seit den 80er-Jahren unter internationalen Sanktionen steht, bei seiner Hinwendung Richtung Afrika zunächst darum ging, Stimmvieh auf UN-Ebene einzusammeln und die von seiner großspurigen Rhetorik zunehmend unbeeindruckten arabischen Kollegen zu erpressen.

Inzwischen aber ist Libyens Afrika-Aktivismus zum Selbstläufer geworden. In Rivalität zur dahinsiechenden Maghreb-Union hat Gaddafi eine 16 Länder starke „Gemeinschaft der Sahara- und Sahelstaaten“ (Comessa) ins Leben gerufen, die von Senegal bis Somalia quer durch die Nordhälfte des Kontinents reicht und dem libyschen Führer als diplomatisches Sprungbrett und Forum zur Diskussion pharaonischer Wirtschaftsprojekte dient. In einer Rede vor dem libyschen Volkskongress sagte Gaddafi im März: „Ihr habt Geld, Öl und Gas, Afrika muss davon profitieren. Man muss die Wüste besiegen, Straßen und Eisenbahnen durch die Wüste bauen, um den Nil, den Senegal-Fluss und die Großen Seen zu erreichen und von den Wasserressourcen des Kontinents zu profitieren. Eure Zukunft liegt in Afrika.“

Dieser Gigantismus ist ganz nach dem Geschmack der afrikanischen Präsidenten, die nach zwei Jahrzehnten Krise hoffen, endlich wieder klotzen zu können. Eine Reihe afrikanischer Führer, deren politische Sozialisation in den 70er-Jahren erfolgte, dominiert die Zukunftsdiskussion des Kontinents: Thabo Mbeki in Südafrika, Olusegun Obasanjo in Nigeria, Abdelasis Bouteflika in Algerien, Abdoulaye Wade in Senegal.

Mbeki, Obasanjo und Bouteflika arbeiten an einem „Millennium Africa Recovery Plan“ (MAP), der Afrika für Auslandsinvestitionen fit machen und eine vernünftige Armutsbekämpfung ermöglichen soll. „Die andauernde Marginalisierung Afrikas im Prozess der Globalisierung und der Ausschluss der überwiegenden Mehrheit unserer Bevölkerung aus diesem Prozess ist eine ernste Bedrohung für die soziale Stabilität der Welt“, warb Mbeki für sein Konzept, dessen Details noch erarbeitet werden, auf dem Weltwirtschaftsforum von Davos im Februar.

Gaddafi als politischer Visionär Afrikas, Mbeki als ökonomischer – so einfach ist das allerdings nicht. Geht es Südafrika und Nigeria darum, Afrika per Vereinigung zum Erfolg auf dem globalen Markt zu verhelfen, will Libyen den Kontinent als Bollwerk gegen die Globalisierung und die USA zusammenschmieden. „Die Globalisierung hat die Idee geschaffen, dass das materielle Interesse die Länder vereint und nicht ihre Sprache, Religion oder Rasse“, kritisierte Gaddafi unlängst.

Die Rivalen holen auf

Es war ein kluger Schachzug Südafrikas und Nigerias, ihre Ratifizierungen der Gründungsakte so zu terminieren, dass gerade sie die Geburt des Staatenbundes möglich machen. Sie sichern sich damit prägenden Einfluss auf einen Prozess, in dem viele Konflikte zu erwarten sind. Libyen und Südafrika reklamieren beide den Sitz des zukünftigen afrikanischen Parlaments. Nigeria, bevölkerungsreichstes Land Afrikas, ist unzufrieden, dass im Parlament jeder Staat unabhängig von der Bevölkerungszahl fünf Sitze bekommt. Libyen beißt bei vielen Ländern auf Granit mit dem Wunsch, gemeinsame afrikanische Streitkräfte zu bilden.

Offen ausbrechen werden diese Konflikte auf dem nächsten OAU-Gipfel, der im Juli in Sambia stattfinden soll. Da muss die OAU ihre Überführung in die Afrikanische Union beschließen. In genau einem Jahr erlischt dann die OAU-Charta aus dem Jahr 1963. Bis dahin müssen die Institutionen der AU stehen. Bei den Machtkämpfen über ihre Besetzung wird deutlich werden, wie viel Unterstützung Gaddafi in Afrika tatsächlich genießt.

Letztendlich krankt die AU am gleichen Fehler wie die OAU: Sie ist eine Vereinigung von Staatschefs, nicht von Völkern. Die bleibt ein ferner Traum. Rassistische Gewalt gegen afrikanische Ausländer nimmt in vielen Ländern Afrikas zu – gerade auch in Südafrika und in Libyen, wo im vergangenen Herbst über 130 Schwarzafrikaner bei Pogromen getötet wurden. Offene Grenzen sieht die AU nicht vor.

Mitte Mai, während Libyens Führer schon den „historischen Augenblick“ der Vereinigung Afrikas feierte, strandete an der libyschen Südgrenze in der Sahara ein Lastwagen voller illegaler schwarzafrikanischer Migranten. 140 Passagiere verdursteten. Der Regierungssprecher von Niger, südlicher Nachbar des ölreichen Libyen und zweitärmstes Land der Welt, kommentierte: „Das kommt sehr oft vor.“

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