Königskinder im Tal der Texte

Reden statt anfassen: Roland Schimmelpfennigs „Arabische Nacht“ an der Schaubühne am Lehniner Platz

Langsam schiebt ein Mann sein Profil hinter der Wand hervor. Er schnuppert ratlos, sucht mit den Augen, die Hände flattern unbestimmt. „Wasser“, quält er sich heraus, „ich höre Wasser.“ Der Typ im blauen Kittel ist Hausmeister Lohmeier, und Thomas Bading verkörpert den Melancholiker so phlegmatisch und nervös zugleich, so sperrig und raumgreifend, dass auch später, wenn die Bühne nicht mehr ihm allein gehört, seine forschenden Selbstgespräche mühelos durchdringen. „Zieh doch mal den Kittel aus“, hatte seine erste Frau zu ihm gesagt, und tatsächlich wird er ihn am Ende der Nacht ablegen, vom Hausmeister zum Menschen werden und zum Mann.

Fünf Personen laufen aneinander vorbei in diesem gesichtslosen Mietshaus mit den zehn Stockwerken und dem defekten Aufzug. Das Wasser rauscht in den Wänden, aber in den oberen Etagen kommt kein Tropfen aus dem Hahn. Es ist heiß. Fünf Menschen in immer gleichen Situationen: Eine Frau, die nach der Arbeit auf dem Sofa einschläft, ein Mann, der auf den Anruf seiner Freundin wartet, eine Mitbewohnerin, die mit Einkaufstüten beladen nach Hause kommt, ein neugieriger Fremder und ein Hausmeister mit einem Wasserproblem. Ein Abend wie jeder andere, aber eine Nacht, in der der Mond scheint. Zwei Menschen werden aufwachen und sich begegnen, zwei werden sterben.

Autor Roland Schimmelpfennig lässt seine Figuren Sätze sprechen wie Regieanweisungen: „Sie trägt nur Unterwäsche. Sie zieht sich aus und steigt in die Badewanne“. Das ganze dramatische Geschehen spiegelt sich – beschrieben, kommentiert – im Text. Das wirkt zuallererst befremdlich, aber je weiter Handlung und Nacht fortschreiten, je mehr einfache Vorgänge rübergleiten in fantastische Traumspiele, umso deutlicher wird: Sprechend vergewissern sich die Akteure der äußeren und inneren Realität, einer Realität, die immer mehr nur in und durch die Beschreibung existiert.

Schimmelpfennig montiert in seinem jüngsten Stück, das im Februar am Staatstheater Stuttgart uraufgeführt und nun an der Schaubühne von Tom Kühnel inszeniert wurde, Menschen, Wege und Schicksale parallel. Schnittpunkte existieren, aber nur im Unbewussten. In kunstvollen Arrangements gehen sich die Protagonisten immer wieder aus dem Weg: Sie quatschen viel, aber nicht miteinander; manchmal kommunizieren sie, ohne es wirklich zu wissen. Kühnel setzt in solchen Momenten die drei Männer schon mal eng beieinander aufs Sofa, tröstend streichen sie sich über den Arm. Eine uralte Geschichte scheint dies zu sein und eine ganz heutige zugleich. Da sind Königskinder, die nicht zueinander kommen, Dornröschen schläft seinen hundertjährigen Schlaf, Menschen werden verzaubert, gehen verloren, und nur manche kehren zurück.

Kühnel sieht vor allem das heiter-absurde Geschehen, die Komödiendramaturgie, die sich effektvoll ausschlachten lässt: Oben steht eine Tür offen, unten fällt eine zu. Zu glatt, zu munter gerät manchem Darsteller der Vortrag. So viel Gerede, aber wer spricht, und vor allem: zu wem? Die Gefahr, dass an die Zuschauer gerichtet eine lustige Geschichte mit zunehmender Gruselkomponente erzählt wird, verhindert Anne Tismer. Niemals bleibt es bei ihr nur Reden und Rezitieren, immer spricht sie wirklich, dehnt die Worte fragend, lässt sie in sich hineinfallen und lauscht ihnen hinterher. Sie führt als daumenlutschende Kindfrau, als versponnene und kraftvolle Prinzessin alle anderen – sogar den Hausmeister – am Gängelband ihrer Träume. In ihrem Spiel wird sichtbar, was das Stück leisten kann: die Transzendierung des ganz normalen Wahnsinns in eine unheimlich märchenhafte Dimension.

REGINE BRUCKMANN

Nächste Vorstellungen: 9. und 10. 6.,19 Uhr, Schaubühne am Lehniner Platz