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JOSPINS EUROPA-REDE WAR KEIN GROSSER WURF: ES FEHLT DER MUTWahlkampf, wie immer

Europapolitische Visionen und europäisches Tagesgeschäft haben nicht viel miteinander zu tun – das ließ sich gestern zwischen Brüssel und Paris gut beobachten. Zum wiederholten Mal diskutierten die EU-Justiz- und Innenminister in Brüssel vergeblich darüber, wie ihre Rechtssysteme angeglichen werden können, um organisierter Kriminalität und den Folgen von Flucht und Vertreibung zu begegnen. Zur gleichen Zeit malte der französische Premier Jospin in Paris ein sympathisches Bild von der europäischen Einheit in Vielfalt – europäischer Staatsanwalt, Europol und harmonisierte Unternehmenssteuern inklusive.

Jospin hofft wohl auf das kurze Gedächtnis seines Publikums, wenn er jetzt eine Wirtschaftsregierung für den Euroraum fordert. Schließlich war es der französische Finanzminister, der ausgerechnet unter französischer Ratspräsidentschaft im Alleingang die Mineralölsteuer senkte und die Kollegen im Rat vor vollendete Tatsachen stellte. Aber natürlich dürfen Politiker ihre Meinung ändern. Jospins Rede benennt die dringendsten Probleme, die die Union in nächster Zeit lösen muss: Gesundheitsschutz, soziale Mindeststandards, Solidarität mit dem Süden. Es ist erfrischend, dass ein Politiker einmal nicht die Handelsliberalisierung als Allheilmittel für soziale und politische Defizite zu verkaufen versucht.

Die Frage aber, wie die europäischen Institutionen aussehen sollen, die dieses kulturell vielfältige, sozial gerechte und außenpolitisch mäßigend wirkende Europa regieren, beantwortet Jospin nicht. Eine Prise Fischer: Die nationalen Parlamente sollen als „Kongress“ in die Willensbildung einbezogen werden. Ein Schlückchen Schröder: Die Stellung der Kommission soll gestärkt, ihr Präsident aus der Mitte des Parlaments gewählt werden. Ein Häppchen Chirac: Die Nationalstaaten dürfen in ihrer Souveränität nicht angetastet werden.

Schon gar nicht, wenn es um kulturell so zentrale Fragen wie das Waidwerk geht. Gleich neben den großen europäischen Themen findet es gebührende Erwähnung. Frankreichs Jäger sind schließlich eine ernst zu nehmende Lobby, und sie hassen die Tierschutzfanatiker in Brüssel, die ihnen den Spaß verderben wollen. Wenn es konkret wird, dieser Verdacht drängt sich auf, will Jospin keinen von denen vor den Kopf stoßen, die ihn nächstes Jahr zum Präsidenten der Republik wählen sollen. Und so fehlt dieser Rede bei allem sozialen Engagement und vielen praktikablen Ideen eben doch die Kühnheit, die Europa brauchen würde. Die sich aber in Wahlkampfzeiten nicht einstellt. Da immer irgendwo in Europa gerade gewählt wird, zeigt sich daran aufs Schönste das ganze Dilemma.

DANIELA WEINGÄRTNER

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