Die heilige Maria auf dem Motorrad

Bisher verstand sich der palästinensische Film vor allem als Instrument der Mobilisierung. In neueren Arbeiten wird die eigene Situation kritisch durchleuchtet und sogar mit jüdischen Verhältnissen verglichen. Eindrücke vom Beiruter Festival „Zwischen zwei Intifadas: Palästina im Neuen Film“

von VIOLA SHAFIK

Die zweite Intifada ist wohl mit Sicherheit einer der meist fotografierten und journalistisch abgedeckten Konflikte der Welt. In den Straßen Ramallahs, so beschreibt es die palästinensische Filmemacherin Azza Hassan in ihrem Film „Nachrichten Zeit“ („zaman al-akhbar“), sind mehr ausländische Kameras als Menschen unterwegs. Sie selbst zeigt eine trostlose, entvölkerte und gelangweilte Stadt und kleine Jungs, die die Zeit totschlagen. Dieses und andere Werke wurden Mitte des Monats in Beirut im Rahmen des Festivals „Zwischen zwei Intifadas: Palästina im Neuen Film“ gezeigt.

Das palästinesische Filmschaffen ist allgemein vom Dokumentarfilm beherrscht, was nicht nur mit dem Mangel an finanziellen und technischen Ressourcen sowie dem Exil der meisten Filmemacher zusammenhängt. Es deutet auch Skepsis gegenüber der Macht der Fantasie angesichts einer erdrückenden politischen Situation an. Trotzdem bleiben nicht alle diese dokumentarischen Filme auf der Ebene des unmittelbaren Ereignisses stecken. Mit Witz und formalem Einfallsreichtum versuchen manche den realen Notstand zu transzendieren. FilmemacherInnen wie Azza Hassan, Elia Suleiman oder Nitar Hassan durchleuchten die aktuelle Situation vor dem Spiegel der eigenen Subjektivität – auch wenn die unmittelbaren Folgen von Besatzung, Vertreibung, Entbehrung, Verkrüpplung und Tod den Grundtenor eines Großteils der Filme bilden.

Der Versuch, sich durch die Darstellung von Blut, Stacheldraht und Tränen Luft zu schaffen und damit andere zu mobilisieren, ist verständlich, wie man an Mai Masris neuem Film „Träume der Verbannung“ („ahlam al-manfa“) sehen kann. Sie porträtiert eine Gruppe von Kindern aus den Lagern Schatila im Libanon und Betlehem im Westjordanland, die in intensiven Briefkontakt treten. Treffen können sie sich nur an der israelisch-libanesischen Grenze. Während sie versuchen, sich die Hände durch den Stacheldraht zu reichen und kleine Souvernirs austauschen, werden sie von den israelischen Soldaten misstrauisch observiert. Ein kleiner Junge kriecht unter den Zaun, um ein wenig Heimaterde in eine Plastikflasche zu füllen: Endlose Tränen fließen auf und vor der Leinwand im Kino. Nur kurz allerdings deutet Masri an, dass die Kinder aus zerrissenen und zerbrochenen Familien stammen, mit vertriebenen, verhafteten und getöteten Elternteilen. Ein Mädchen, dessen Vater bei Scharons Schatila-Massaker umkam, wurde, acht Jahre alt, von der Mutter verlassen, als diese einen neuen Mann heiratete. Die menschliche Schwäche und die Tragik von Frauen und Müttern in einer patriarchalischen Flüchtlingsgesellschaft hat die Filmemacherin mit emotional geladenen Bildern zugeschüttet.

Masri, die in Amman geboren wurde, studierte in den USA. Seit ihrem ersten Film „Unter den Trümmern“ („taht al-anqad“, 1983), in dem sie die Zerstörung Beiruts durch die Israelis dokumentierte, kehrte sie immer wieder zu den gleichen Bildern zurück. Blut und Tränen fließen auch in „Prozession“ („lamma zaffuk“, 2001) von Eyas Natour über „Mütter der Märtyrer“, die ihre Sohne in der zweiten Intifada verloren haben. Die Anklage ist so alt wie der palästinensische Film, der in den Reihen des Fatah-Widerstandes in Jordanien 1969 entstand. Mit rudimentären Mitteln versuchte man damals die Situation der Flüchtlinge und Kampfhandlungen zu dokumentieren. Die Rhetorik des frühen palästinensischen Films, der nach der Zerschlagung des Widerstandes in Jordanien vorläufig in den Libanon übersiedelte, entwickelte sich im Hinblick auf die zionistische Propaganda. Letztere, so die irakisch-israelische Filmwissenschaftlerin Ella Shohat, porträtierte das Heilige Land als „ein Land ohne Volk, für ein Volk ohne Land“. Palästinenser spielten höchstens die Rolle marodierender Nomaden.

Während der 80er-Jahre, nach dem Auszug der PLO aus Beirut und mit der Verlagerung des Widerstandes in die besetzten Gebiete, machte sich mit dem in Nazaret geborenen Michel Khleifi ein neues, selbstkritischeres Filmschaffen bemerkbar. Mit seinem ästhetisch herausragenden, einfühlsamen Film „Das fruchtbare Gedächtnis“ („al-dhakira al-khisba“, 1980) und dem nachfolgenden Spielfilm „Die Hochzeit in Galiläa“ („urs al-jalil“) verschaffte er dem palästinensischen Filmschaffen Gehör auch außerhalb seiner traditionellen Foren, unter anderem zum Beispiel auf dem Leipziger Filmfestival. Ganz im Sinne der feministischen Autorin Sahar Khalifa, die er im ersten Film porträtierte, arbeitete Khleifi die Erfahrung einer doppelten Besatzung im Leben seiner Protagonisten/innen heraus: die Israels und die der patriarchalen Gesellschaft. Mit dem in Brüssel lebenden Regisseur etablierte sich im Film Palästinas eine Spaltung zwischen antikolonialer Rhetorik einerseits und pragmatischer Selbsterforschung andererseits, was sich anfänglich auch in einer geografischen Polarität ausdrückte, zwischen Diaspora und Leben unter der Besatzung.

In den jüngsten palästinensischen Produktionen stehen hingegen meistens Kinder im Vordergrund. Ein Grund ist mit Sicherheit, dass Kinder diejenigen Kriegsopfer sind, die am wenigsten für ihr Leiden können. Leidende Kinder erregen Sympathie, wenn auch nicht uneingeschränkt, wie die Bemerkung der schwedischen Konigin unlängst zeigte. Sie hatte die palästinensischen Mütter beschuldigt, ihre Kinder mit Absicht zu opfern. Mir scheint eine andere Erklärung plausibler. Sie liegt in der Natur der zweiten Intifada selbst begraben.

Wie die Soziologin Penny Johnson vom Frauenforschungszentrum der Bir-Zeit-Universität in Kairo vor zwei Wochen in einem Vortrag erklärte, manifestiert sich im jüngsten Aufstand eine tiefe Krise der Mutter- und Vaterschaft. Angesichts der tödlichen israelischen Angriffe haben die Eltern ihre Beschützerfunktion eingebüßt, wie sich am Beispiel des zwölfjährigen Muhammad al-Durra zeigte, der vor den Augen der Welt in den Armen seines Vaters erschossen wurde. Als weiteres Beispiel nannte Johnson den dreizehnjährigen Fares Oudeh, dessen Anblick, mit erhobenem Arm vor einem Panzer, als Poster die Geschäfte Palästinas ziert. Seine Mutter folgte ihm beständig von einem Checkpoint zum anderen. Auch sie konnte nicht verhindern, dass er durch einen Genickschuss starb.

Eltern haben sowohl die Fähigkeit zu beschützen als auch zu kontrollieren verloren. Abgesehen von der damit verbundenen sozialen Desintegration, zeigt sich hier auch der Hauptunterschied zwischen den beiden Intifadas: Ende der 80er waren Eltern, Frauen wie Männer, mehr am Widerstand beteiligt, da die Front sich durch das ganze Land zog. Heute konzentrieren sich die Zusammenstöße (abgesehen von den israelischen Bombardements) an bestimmten, isolierten Punkten, den Grenzübergängen und den Siedlungen. Hier lassen in erster Linie frustrierte männliche Jugendliche ihrem Zorn freien Lauf.

Dieser Unterschied ist wichtig, um jene Filme zu verstehen, die einen komplexeren Einblick in die Lage verschaffen, wie „Nachrichtenzeit“ von der Regisseurin Azza Hassan oder die „Herausforderung“ von Nizar Hassan. Erstere präsentiert u. a. vier Jungen aus einem Flüchtlingslager, die in einem sonst eher gutbürgerlichen Viertel Ramallahs auf der Suche nach israelischen Kampfwagen sind, bis einer ihrer Klassenkameraden zu Grabe getragen wird. Auf formaler Ebene distanziert sich Hassan von den spektakulären, dichten Nachrichtenbildern. Sie bezieht ihre Umgebung und die Kinder direkt in die Dreharbeiten mit ein. Indem sie den Prozess des Filmemachens visualisiert, dekonstruiert sie das scheinbare Ereignisreichtum, die spektakuläre Dichte, mit denen die Nachrichten das politische Geschehen konstruieren.

Auch Nizar Hassan verfolgt eine ähnliche Taktik. Sein ursprünglicher Filmauftrag, in dem er dem Tod Muhammad al-Durras nachgeht, wird ein Film über das Filmemachen im Ausnahmezustand. Unpassierbare Straßen, Ausgangsperren, Barrikaden, Checkpoints erschweren dem palästinensischen Team die Arbeit. Schließlich scheint der Weg von Ramallah nach Gaza weiter als nach Europa.

Exil – das andere große Thema. Azza Hassan, die teils in Beirut aufwuchs und in England studierte, behandelt es in ihrem experimentellen Film „Der Ort“ („al-makan“) auf ungewöhnliche Weise. Die Bilder ihrer Rückkehr, quasi im Anflug durch atemberaubende Luftaufnahmen, enden im verlassenen Haus ihrer Großeltern. Die Spuren seiner Bewohner vermitteln die Zwiespältigkeit des Begriffes „Heimat“. Für eine Exilantin bringt die Verschiebung der Zeit auch eine Verschiebung des Orts. Immer wieder gibt es komplizierte Bedeutungsverschiebungen, die sich im alltäglichen Konflikt und seinen Diskursen ergeben. So entsteht mit mythisch aufgeladenen Begriffen, wie Vertreibung, Verfolgung, Diaspora bis zum Völkermord, eine Kongruenz palästinensischer und jüdischer Verhältnisse, die Unterdrücker und Unterdrückte auf absurde Weise aneinander kettet.

Elia Suleiman bringt das in einem fast kryptisch anmutenden Werk wunderbar auf den Punkt: In dem kurzen fiktionalen Film „Cyber Palestine“ (1999) erhalten die schwangere Maria und Josef per Internet den Befehl, nach Betlehem zurückzukehren. Mit dem Motorrad machen sie sich auf den Weg, werden aber an einem Checkpoint aufgehalten. Dort ohrfeigt Josef den Wachposten, weil er ihn nach dem Vater des Kindes fragt. Es folgt der Zwischenschnitt einer atemberaubend schnellen Sequenz gewalttätiger Fernsehbilder. Daraufhin wird Josef zu Boden getrampelt. Welch Ironie: Suleiman, ein christlicher Palästinenser aus Nazaret, versucht unter heutigen Bedingungen Maria und Josef zur Heiligen Nacht nach Betlehem zu schicken. Nicht nur die Frage nach ein und derselben Geschichte erhebt sich: Wer ist wo zu Hause, will man wissen. Und sind es nicht (europäische/amerikanische) Christen, mit dem gleichen mythologischen Hintergrund, die hier den (europäischen) Juden zusehen, wie sie einen (arabischen) Christen daran hindern, nach Hause zu gehen? Andererseits, wie viel männliches Ego ist an der ausufernden Gewalt schuld? Schließlich endet der Film mit Maria, die ganz allein mit dem Motorrad über Land braust.