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Eine Chronik von Zwang und Lüge

In Indien ist die Familienplanung seit einem halben Jahrhundert Gegenstand saatlicher Kampagnen. Risikotechniken und gefährliche Mittel wurden an Inderinnen getestet. Die Pille spielt kaum eine Rolle

BONN taz ■ Indien kann auf fast 50 Jahre Familienplanung als Regierungsprogramm und Bestandteil seiner jeweiligen nationalen Fünfjahrespläne zurückblicken. Dabei spielten die kleinen Pillen, die im Westen nicht nur zum beliebtesten Verhütungsmittel aufstiegen, sondern zur Ikone der Frauenemanzipation und sexuellen Revolution stilisiert wurden, zu keinem Zeitpunkt eine größere Rolle.

Das Ziel der indischen Familienplanungspolitik war und ist die Kontrolle des Bevölkerungswachstums. Seit einem halben Jahrhundert sucht die indische Regierung nach Techniken und Taktiken, um diese Bevölkerungszunahme einzudämmen und die Kleinfamilie als Norm durchzusetzen.

Sterilisation als angeblich „sicherste“ und endgültige Methode wurde die bevorzugte Strategie dieser Politik, entsprechend dem Interesse der indischen Regierung an einer flächendeckenden demografischen Steuerung der Fruchtbarkeit.

In den Siebzigerjahren konzentrierte sich die Verhütungspolitik auf die Männer. Hauptächlich auf Initiative Rajiv Gandhis, des Sohns der Regierungschefin Indira Gandhi, wurden sie auf dem Land unter Einsatz von Militär auf den Dorfplätzen zusammengetrieben und zwangsweise sterilisiert. Erst nach massiven Protesten gab man diese Radikalkur auf.

Die Pille spielt bis heute eine nur sehr nebensächliche Rolle in der indischen Geburtenkontrolle, obwohl Verhütung nach diesem Debakel nahezu reine Frauensache ist. Etwa die Hälfte aller Inderinnen verhütet heute, mit dem Ergebnis, dass laut Volkszählung vom Februar dieses Jahres die virtuelle Durchschnittsinderin heute nur noch drei Kinder bekommt – vor 50 Jahren waren es noch sechs Kinder. Drei Viertel aller Frauen, die „Familienplanung“ praktizieren, sind sterilisiert. Die meisten Frauen, die absetzbare Methoden benutzen, wählen Spiralen. Gerade einmal drei Prozent aller Inderinnen nehmen die Pille.

Das Forum für Frauengesundheit in Bombay nennt die indische Bevölkerungspolitik eine „Chronik des Zwangs, des Missbrauchs und der Lügen“. Eine ganze Serie von Risikotechniken und gesundheitsschädlichen Mitteln wurde an Inderinnen getestet: in den Sechzigerjahren die berüchtigte Lippes-Spirale, danach die Mehrmonatsspritzen Net-En von Schering und Depo-Provera von Upjohn, das Hormonimplantat Norplant, eine Anti-Schwangerschafts-„Impfung“, eine Einjahrespille und zuletzt das chemische Sterilisationsmittel Quinacrine – alles Methoden, die beweisen, dass es der Politik nicht darum ging, Frauen Instrumente zur selbstbestimmten Geburtenkontrolle an die Hand zu geben.

Nach der Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo verkündete die Regierung eine Umorientierung ihrer Bevölkerungspolitik. Nicht mehr demografische Zielvorgaben mit einem ausgefeilten Belohnungs-und-Bestrafungs-System für jeden Bundesstaat, für jede Provinzverwaltung und das Gesundheitspersonal sollen im Vordergrund stehen, sondern die reproduktive Gesundheit der Frauen. In einem „Cafeteria-Ansatz“ sollen Gesundheitszentren in Stadt und Land den Frauen ein Palette möglicher Geburtenkontrolle anbieten, darunter auch die Pille.

Doch die Idee der freien Wahl muss zwangsläufig ein Wunschbild bleiben. Denn weder die GesundheitsberaterInnen noch die Frauen sind über die verschiedenen Mittel informiert. So fand denn auch keine Abkehr von der Sterilisationsstrategie statt und immer wieder werden noch Massensterilisationen durchgeführt.

Die kürzliche Volkszählung bestätigte erneut die großen Ungleichheiten zwischen den armen Bundesstaaten in Nordindien und den südindischen Bundesstaaten, wo sowohl die wirtschaftliche Entwicklung als auch die Position der Frauen stärker ist als im Norden. Im Süden ist die Verhütungsquote höher und die Geburtenrate niedriger. Erschreckend ist jedoch, dass sich neuerdings auch in den südindischen Bundesstaaten – wie im Norden – das Geschlechterverhältnis zuungunsten von Frauen entwickelt: Weniger Mädchen werden geboren, die Kindersterblichkeit von Mädchen ist höher als die von Jungen.

Dahinter steht ein zunehmender Femizid: Weibliche Föten werden abgetrieben, Mädchen bei der Ernährung und Gesundheitsversorgung vernachlässigt. Verhütet wird hier ganz einfach und ganz entschieden das weibliche Geschlecht. CHRISTA WICHTERICH

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