: Friedenstauben an der Märtyrer-Uni
Die Bir-Zeit-Universität in Palästina war das Zentrum der ersten Intifada. Hin- und hergerissen zwischen den Erinnerungen daran und dem Wunsch, auch in der Al-Aksa-Intifada einen Beitrag zu leisten, suchen die Studenten ihre neue Rolle. Die meisten glauben an gewaltfreie Aktionen
aus Bir Zeit YASSIN MUSHARBASH
Der Campus der Bir-Zeit-Universität sieht nach Hochschulalltag aus: Studenten mit Büchern in den Händen betreten und verlassen ihre Fakultäten oder spielen Basketball auf dem kleinen Feld neben dem Maschinenbau-Institut. In Wirklichkeit ist hier fast nichts normal. „Ab 11 Uhr fallen für die Dauer von zwei Stunden alle Veranstaltungen aus, um die Märtyrer des gestrigen Tages zu ehren“, steht auf einem großen Plakat neben dem Häuschen der Studentenvertretung. Am Tag zuvor waren in Ramallah zwei Palästinenser bei israelischen Luftangriffen getötet worden.
„Schau dir an, wie leer der Campus ist“, weist Diya Himayel, der Vorsitzende der Studentvertretung, auf ein anderes Detail hin. „Wegen der israelischen Checkpoints verpasst rund ein Fünftel der Studenten jeden Tag ihre Kurse und Seminare.“ Der verheerende Anschlag von Tel Aviv hat die Absperrungen jetzt erneut verschärft. Niemand weiß, wann in Bir Zeit wieder studiert wird. Die Abriegelung trifft eine Institution, die Selbstmordattentate keineswegs gutheißt (siehe Kasten).
Die Bir-Zeit-Universität hat knapp 5.000 Studenten. Die Hälfte von ihnen lebt in Ramallah. Normalerweise braucht man 20 Minuten für den Weg dorthin, in diesen Tagen sind die Studis anderthalb Stunden unterwegs, ehe sie alle Kontrollen passiert haben. „Die israelischen Soldaten haben Listen mit den Namen von Studenten, die sie verhaften wollen“, berichtet Hamudi F. Der 24-jährige Student der Kommunikationswissenschaften kommt aus Gaza. Für ihn und seine Kommilitonen von dort ist der tägliche Weg ein Horror: Werden sie zurück nach Gaza geschickt, dürfen sie nicht wieder in das Westjordanland zurückkehren.
Bir Zeit ist eine von neun Unis in Palästina, deren Leben seit vergangenem Herbst durch die Al-Aksa-Intifada bestimmt wird. Ganz gleich, ob die Hochschulen in autonomem palästinensischem Gebiet liegen wie die Al-Najah-Uni in Nablus oder in einer teilweise israelisch kontrollierten Zone wie die Al-Quds-Uni in Abu Dis in Jerusalem; ob sie private Einrichtungen sind wie die American University in Jenin oder religöse wie die islamische Hochschule in Gaza; ob sie groß sind wie Gazas Al-Azhar-Uni mit 15.000 Studenten oder klein wie die Hebrons mit 3.000 Studis – nichts ist mehr wie vor dem Aufstand, den Israels heutiger Premier Ariel Scharon durch seinen Besuch auf dem Vorplatz von Palästinas wichtigster Moschee provozierte.
„Ich habe Schwierigkeiten beim Lernen“, erzählt Hamudi. „Wie kann ich studieren, wenn die Israelis meine Nachbarschaft bombardieren, oder wenn zehn Leute um mich herum an einem einzigen Tag getötet werden?“, fragt er. „Zu Beginn der Intifada war ich enthusiastisch und bin Steine werfen gegangen. Jetzt bin ich traurig und müde. Wir vergessen nicht, dass wir Teil der notwendigen Revolte gegen die Besatzung sind“, sagt Hamudi, „aber es ist schwierig.“
Palästinensische Studenten sind, kein Zweifel, stark politisiert. „Hier begann die Al-Aksa-Intifada wirklich“, erzählt Bashar Muhammad stolz, der die Studentenvertretung der Bir-Zeit-Universität während der bewegten ersten Wochen der Intifada leitete. „Unsere Studenten haben die ersten Demonstration gegen Ariel Scharons Besuch auf dem Haram Al-Scharif organisiert.“
In Bir Zeit, wie in den anderen Uni-Städten, zahlen die Studis einen hohen Preis für die Intifada. Allein die Al-Najah-Uni in Nablus betrauert den Tod von mittlerweile acht Studenten. Doch noch sind sich die Studis nicht ganz im Klaren darüber, wie ihr Beitrag zur Intifada aussehen soll.
Gewalfreie Aktionen
„Die sieben Jahre zwischen dem Oslo-Abkommen und dem Ausbruch der Al-Aksa-Intifada haben junge Menschen von der Politik entfernt“, erklärt Abdel Kareem Bargouthi, der für studentische Angelegenheiten zuständige Professor an der Bir-Zeit-Universität. „Sie sind noch auf der Suche nach geeigneten Methoden, sich auszudrücken.“ Einen Schluss haben die Studenten allerdings bereits gezogen: Sie glauben an gewaltfreie Aktionen. „Es ist wichtig, dass wir auch weiterhin friedliche Demonstrationen organisieren und besuchen“, glaubt Areej Al-Yusuf, eine Englischstudentin aus Ramallah. „Ich glaube aber, dass wir uns als Studenten darauf konzentrieren sollten, der Welt ein Bild davon zu vermitteln, was hier geschieht.“ Auch wenn sie Angst hat, dabei von israelischen Kugeln verletzt zu werden, nimmt Areej an Protestmärschen teil – an studentischen.
Der Psychologiestudent Raif Abu Mahmoud teilt Areejs Ansicht. Raif verbringt deshalb vier Stunden pro Tag im Internetcafé, um Europäern und Amerikanern zu erklären, warum „unser Kampf legitim ist. Diejenigen, die mir zuhören, ändern oft ihre Meinung“, freut er sich.
Mudar Kassis, Professor für Kulturelle Studien, findet, dass der gewaltfreie Charakter der Studentenbewegung die gesamte Intifada beeinflussen könnte: „Niemand erwartet, dass Studenten mit einer Kalaschnikow herumrennen. Wenn mehr Studenten an der Intifada teilnehmen, kann der Aufstand populärer und gewaltfreier werden.“
Auch die Studentenvertretung steht für Gewaltfreiheit. „Wir wollen nicht, dass Studenten zu Demonstrationen gehen und sich erschießen lassen“, sagt Diya Himayel. Und ergänzt: „Wir müssen die goldene Mitte zwischen Teilnahme an der Intifada und Fortführung unserer Ausbildung finden, denn beides ist wichtig.“ Damit spielt er auf die häufigen Streiks an, die von der Studentenvertretung beschlossen werden. Während der ersten Intifada, die von 1987 bis 1993 andauerte, waren es allein die Israelis, die entschieden, ob in Bir Zeit studiert wurde. Für vier lange Jahre ließen die Besatzungsbehörden damals die Uni schließen. Heute sehen einige die akademische Kontinuität erneut bedroht – wenn auch ganz anders. „Wir versuchen, die Studentenvertreter davon zu überzeugen, keine Streiks auszurufen, aber mehr können wir nicht tun, weil sie in ihrer Entscheidung unabhängig sind“, sagt Vertrauensprofessor Bargouthi. In dieser Hinsicht ist Bir Zeit einzigartig. „Diese Uni ist die einzige wirklich liberale und demokratische Einrichtung in Palästina“, erklärt Bargouthi.
Die meisten Lehrer und Studenten in Bir Zeit glauben, dass ihre Uni ganz besonders ist. Der Ruf Bir Zeits gründet sich auf die Jahre der ersten Intifada, als Studenten und Professoren den israelischen Soldaten in Massen die Stirn boten. Sie weigerten sich, die Schließung der Universität durch die Besatzer zu akzeptieren und lernten und lehrten einfach weiter: auf Feldern, in Privathäusern und sogar im Gefängnis, wenn Studenten und Professoren gemeinsam eingesperrt wurden. Ein Denkmal neben der Uni-Bibliothek erinnert an 13 im Befreiungskampf getötete Studenten. Bir Zeit ist in Palästina auch als „Universität der Märtyrer“ bekannt. „Bir Zeit ist ein Symbol“, sagt Manal Odeh, eine 25-jährige BWL-Studentin. „Wir sollten uns an das halten, was wir damit verbinden, an Zivilcourage und Gewaltfreiheit.“
Doch die Teilnahme an der Intifada ist nur die eine Seite. In ihrem Alltag leiden die Studenten nämlich genauso an den Konsequenzen der Revolte wie jeder andere. Vor allem Geld ist knapp. Die meisten Unis bieten deshalb an, Studiengebühren zunächst zu stunden, mit der Folge, dass Professoren oft nur 70 Prozent ihres Gehalts ausgezahlt bekommen. Auch direkte Unterstützung wird geleistet. Allein in Bir Zeit beschaffte die Studentenvertretung etwa 150.000 Mark aus dem In- und Ausland. Schätzungsweise 900 Studenten haben davon bisher profitiert. Hamudi ist einer der Studenten, die Grundnahrungsmittel wie Reis, Öl, Zucker und Mehl erhielten. Weil er aus Gaza stammt, hat er aber noch ein weiteres Problem: „Seit Ausbruch der Intifada ist es unmöglich, meine Familie zu besuchen.“
Hamas und Fatah
Politisch hat die Intifada Palästinas Studenten geeint. Obwohl die Studentenvertreter sämtlich auf Tickets der politischen Parteien Palästinas gewählt wurden, gibt es zur Zeit praktisch keinen Wettbewerb zwischen ihnen. Zu den Hauptaktivitäten des Studenvertreter gehören in diesen Tagen das Organisieren von Streiks und Demonstrationen, das Eintreiben der Lebensmittelhilfe und Beileidsbesuche bei den Familien von Märtyrern. Diya Himayel, der selbst der Hamas angehört, sagt, „es hat hier keine Bedeutung, ob jemand Hamas-Anhänger oder Fatah-Mitglied ist“.
Doch trotz allen Engagements ist es unübersehbar, dass die Studentenschaft Palästinas noch nicht die Rolle spielt, die ihr während der ersten Intifada zukam, als sie zeitweise die treibende Kraft zu sein schien. Die meisten hier führen das auf zwei Ursachen zurück. Zum einen sind die Umstände heute an jeder Uni völlig verschieden. In Gaza etwa leiden die Studenten weit mehr an Checkpoints als in Bir Zeit. In Hebron hingegen, obwohl ebenfalls in einer autonomen Zone gelegen, werden die Studenten mitunter von radikalen israelischen Siedlern bedroht; 1993 wurden sogar drei Studenten von Siedlern getötet.
Der zweite Grund ist vielleicht noch entscheidender: Die Studenten haben Schwierigkeiten in einer Intifada ihre Position zu bestimmen, die gelegentlich mehr an einen Krieg erinnert als an den ersten Aufstand. „Jede Uni ist ein Mikrokosmos der Gesellschaft“, sagt Professor Kassis. „wenn weniger an der Intifada teilnehmen, ist es nur zu erwarten, dass auch weniger Studenten mitmachen.“
„Was uns Studenten auszeichnet“, fasst Studentenvertreter Himayel den Stand der Dinge zusammen, „ist unsere Fähigkeit, Vorgänge zu analysieren und Aktionen zu organisieren. Als Studenten haben wir aber auf jeden Fall eine Rolle zu spielen.Wir können uns nicht raushalten. Wir haben, wie alle hier, wenig zu verlieren, aber alles zu gewinnen.“
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