: Auf dem Bolzplatz
Eine Kurzgeschichte von JOCHEN SCHMIDT
Irgendwo im Prenzlauer Berg. Die Alliierten haben diesen Sportplatz mit ihren Bomben erbaut, den Platzwart mit den grauen Haaren haben sie dabei leider nicht getroffen. Heute aber ist er nicht gekommen, um uns zu verjagen. „Mit euch kann man doch reden“, sagt er immer, „ditt bringt doch nüscht, übern Zaun klettern.“
Es ist 15:15 Uhr. Wenn ich jetzt einen epileptischen Anfall bekomme, würde ich ihn nicht überleben, denn zwischen meinen Beinen klemmt ein Zaun, der zwar vier Meter hoch ist, aber 40 Meter zu tief, um mich davon abzuhalten, drüberzuklettern.
Auf der anderen Seite schießen 20 rauchende Kerle 25 Bälle auf ein Tor, in dem ein nichtrauchender Zehnjähriger versucht, alle diese Bälle zu halten. So machen wir uns warm. Wenn er einen durchlässt, bekommt er einen hysterischen Anfall. Er wird einmal ein Großer.
Wenn ich unten bin, wird das beginnen, worauf ich mich eine Woche lang gefreut habe. Wenn ich danach wieder hier oben hänge, werden meine Beine brennen und ich werde mich ärgern, weil ich wieder nicht besser gespielt habe als in der Woche davor. Trotzdem werde ich im Lauf der nächsten Woche unmerklich beginnen, mich wieder auf den Sonntag zu freuen. So geht das schon fünf Jahre, vier Winter und drei Kapselrisse.
Die meisten Frauen nervt es, wenn über Fußball geredet wird, ich bin auch so eine. Aber das Spiel hat ja auch ganz andere Aspekte, man kann es zum Beispiel spielen. Das geht tatsächlich, man braucht dazu nur einen Ball. Mir ist es sogar am liebsten, wenn außer dem Ball keiner weiter mitspielt. Alle Autisten werden mir zustimmen, dass es am meisten Spaß macht, zu jonglieren oder gegen eine Wand zu schießen, man wird dabei müde und unglücksunempfindlich.
Beim Fußball zeigt sich der Charakter, den man hat. Ich würde gerne defensives Mittelfeld spielen, zerstören und mit klugen langen Pässen die Spitzen einsetzen. Nur dass die Spitzen meist nicht mitdenken und meine lässigen Außenristpässe nicht ankommen. Deshalb treibt es mich nach vorn, um selbst in die Lücken zu laufen. Aber wer sollte mir zuspielen, wenn nicht ich?
Oft passiert es, dass ein Mitspieler direkt neben mir steht und mich nicht sieht. Ich schreie ihn dann nicht an, weil ich eher wie meine Mutter bin, die immer fand, wir sollten unsere Schlechtigkeit von selbst einsehen, dann würde es länger wirken.
Es bleibt mir also nichts weiter übrig, als in der Spitze hin und herzuhuschen und irgendeinen Zufallsabpraller mit zwei Ballberührungen ins Tor zu schieben. Wenn das nicht gelingt, bin ich die ganze Zeit umsonst hin- und hergehuscht. Es ist eigentlich ein Scheißspiel.
Manchmal waren wir schon dreißig, und wir werden immer mehr. Meistens spielen wir Ärzte gegen Patienten. Die Ärzte studieren Medizin und kommen aus Baden-Württemberg, auf ihren Parties bleiben sie unter sich. Sie reden oft von ihren Prüfungen. Von den Patienten ist einer schizophren-depressiv, einen hat der DDR-Leistungssport tablettensüchtig gemacht, er kann sich nur sehr langsam bewegen, weil er andere Tabletten gegen seine Tablettensucht nimmt, die seine Reflexe beeinträchtigen. Manchmal wird auch ein Arzt zum Patienten, wenn ihm zum Beispiel das Kreuzband reißt und er sich anschließend die vier Meter Zaun mit den Armen hochziehen muss. Das Kreuzband reißt meist ohne Grund und die Heilung dauert ein bis 2 Jahre. Danach hat man ein Bein mit und eines ohne Muskeln, immerhin.
Die Minderjährigen, die sich in diesem geräumigen Bombentrichter sonst noch herumtreiben, wachsen erstaunlich schnell. In zwei Jahren werden sie mir Schläge androhen. Bis jetzt aber kann man an ihnen noch Bockspringen üben. Einer trug mal ein Carsten-Jancker-Trikot. Als wir ihn deshalb ins Tor stellten, zog er das Trikot aus, darunter trug er ein Oliver-Kahn-Trikot.
Wenn uns früher die Großen sagte, geht mal weg, jetzt wollen wir hier spielen, dann waren die nicht sehr gesprächig. Normalerweise gab es gleich eine Ohrfeige. Das hat sich geändert, unsere 58’er Eltern haben uns mit humanistischen Werten lebensunfähig gemacht. Neulich haben wir, da wir wieder 30 waren, die sieben Zwerge gebeten, doch bitte hinter den Toren zu spielen, wo genug Platz für sie war. Einen von ihnen hatten wir uns aber noch ausgesucht und ins Tor gestellt. Die sieben Zwerge waren sehr aufgebracht, sie schraubten Gullydeckel auf, bis Fontänen herausspritzten, sie stellten sich hinters Tor und irritierten ihren Kollegen, klatschten bei jedem Tor Beifall, stopften seine Jacke in eine Pfütze und fingen an zu diskutieren: „Ihr wolltet uns mitspielen lassen und jetzt dürfen wir nicht mitspielen, ditt is ungerecht!“
„Ja, okay, du hast recht, aber sieh mal, wir sind größer und darum geht’s nun mal heutzutage. Du kannst ja wachsen, wenn’s dir nicht passt.“
„Ditt is unjerecht! Wir holn die Polizei.“
„Hol se doch.“
„Wir warn eher da.“
„Nee, wir warn eher da.“
„Wir warn schon jestern da!“
„Wir warn schon vorjestern da.“
„Stimmt janich, wir warn vorjestern da!“
Einer von uns konnte es nicht verstehen, dass er damals eine geknallt bekommen hat und diese Erfahrung jetzt nicht an die jüngere Generation weitergeben durfte. Er nahm sich den Ball des Anführers und schoss ihn über den Zaun. Die kleinen Strolche zogen fluchend davon und kamen mit fünf anderen kleinen Strolchen zurück, sie hatten ihre kleinen Brüder geholt. Sie saßen auf einer Bank und schmiedeten Rachepläne. Sicher waren wir in ihrer Vorstellung schon qualvolle Tode gestorben.
Aus irgendeinem Grund komme ich beim Fußball immer ins Träumen. Wenn die Sonne langsam untergeht und die Brandmauern rot färbt, die Luft kühlt langsam ab, man kann kaum mehr laufen, will aber noch nicht nach Hause, vor allem will man nicht über den verdammten Zaun; dann stelle ich mir vor, wie meine Freundin mit den schorfigen Knien und dem bunten Plasteperlenarmband hinterm Zaun auftaucht, und ich zu ihr hingehe und sage: „Tach.“
„Tach.“
„Na?“
„Wann kommstn?“
„Noch ne Stunde.“
„Mein Alter hat schon wieder jesoffen.“
„Scheiße . . . willste bei mir penn’n?“
„Sind deine Alten nicht da?“
„Nee, ick hab SFB, die sind im Garten, und meine Atze is uff Montage.“
„Denn komm ick zu dir, aber ick schlaf oben!“
„Ick weeß jetz, wo die den Schlüssel vom Kognakschrank verstecken, wir könn ja mal versuchen, wie ditt schmeckt.“
„Und watt is, wenn die ditt mitkriegen?“
„Ach, wir füllen einfach mit Wasser uff.“
„Deine Kumpels rufen.“
„Denn bis nachher, Mandy.“
„Kann ick noch’n bisschen zugucken?“
„Klar.“
Aber so was gibt’s im Jahr 2001 gar nicht mehr.
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