: Der Magnet für Leseratten
Die Zentral- und Landesbibliothek feierte gestern ihr 100-jähriges Bestehen. Mit Geld- und Platznot hatte sie fast immer zu kämpfen. Jetzt fordert sie den Umzug in einen Neubau auf dem Schlossplatz. Und Kultursenator Stölzl ist dem nicht abgeneigt
von PHILIPP GESSLER
Annette Gerlach ist die Hüterin der Schätze. Bücher, sagt die Historikerin, erzählen von der Zeit, in der sie geschrieben oder verlegt werden. Wie etwa dieses Kinderbuch in ihren Regalen, herausgegeben Anfang der Dreißigerjahre: Auf dem Umschlag ist der bärtige Robinson Crusoe zu sehen, vor ihm liegend Freitag. Sein Diener und Kompane auf der Südseeinsel hat als Zeichen der Unterwerfung Robinsons rechten Fuß auf seinen Nacken geschoben. Der verschollene Herrenmensch, so lehrt das Vorwort, hieß eigentlich Kreutzner und kam aus Bremen.
Darüber kann Annette Gerlach nur lachen. Sie ist die Leiterin der Historischen Sondersammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, die gestern ihren 100. Geburtstag feierte. Das Meisterwerk von Daniel Defoe gehört zu den fünfzig Sammlungen mit etwa 200.000 Büchern, die Gönner in den letzten 100 Jahren der Bibliothek im früheren Marstall an der Breiten Straße, gegenüber dem Staatsratsgebäude, vermacht haben.
Auch der Nachlass der (Tri- vial-)Autorin Hedwig Courths-Mahler findet sich unter den Schätzen: Wo früher Rosse wieherten, lagern heute Bastei-Heftchen mit den Herz-Schmerz-Geschichten der Tochter Courths-Mahlers, Friede Birkner, die mehr schrieb als ihre Mutter, aber immer in deren Schatten stand – wer sagt, in Bibliotheken rausche nicht das wahre Leben?
Wie in eine Schatzkammer führt Annette Gerlach Besucher durch ein heruntergekommenes Treppenhaus mit dem typischen Muff eines Bodenbelags aus DDR-Zeiten in den ältesten Lesesaal der ZLB, der Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurde: Büsten von Thomas Mann und Bertolt Brecht stehen in den Regalen. Auf einer Empore, zu der eine Treppe mit rotem Samtläufer führt, ist eine kleine Ausstellung zu sehen, die von der bisherigen Geschichte der Bibliothek erzählt. Sie beginnt mit einer Forderung und endet mit ihr.
Der Berliner Stadtbibliothekar Arend Buchholtz verlangte am 1. August 1900 die Gründung einer Landesbibliothek. Zwar gab es in der Reichshauptstadt schon 27 städtische Volksbibliotheken und 6 öffentliche Lesehallen – die hatten jedoch fast nur Unterhaltungsliteratur in ihren Beständen. Wer wissenschaftliche Studien betreiben wollte, war auf die Universitäts-, die Königliche und die Magistratsbibliothek angewiesen. Keine Bibliothek der Stadt aber versuchte beide Gebiete gemeinsam zu sammeln: „als eine Bildungsanstalt für die weiten Kreise der Bevölkerung, die das nicht abweisbare Bedürfnis haben, die Grenzen ihres Wissensgebiets zu erweitern“.
So wurde am 6. Juni 1901 die Gründung der Landesbibliothek vom Stadtparlament beschlossen – als sie im Oktober 1907 ihre Türen öffnete, hatte sie 90.000 Bände in ihren Beständen. Heute finden sich in ihren Häusern im Marstall und in der Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg „über 2,3 Millionen elektronische und gedruckte Medien“. Die Zeiten ändern sich, die ZLB bietet Internetplätze, PC-Arbeitsplätze und Rechercheterminals.
Doch der permanente Geldmangel ist eine Konstante in ihrer Geschichte geblieben: Schon in den Anfangsjahren sank der Etat für Bücher und Buchbindearbeiten von 51.000 Mark im Gründungsjahr auf nur noch 30.000 Mark zwei Jahre später. Derzeit hat die ZLB einen Etat von über 40 Millionen Mark im Jahr – 12 Millionen Mark muss sie als Miete wieder zurück an die Stadt überweisen. Wegen der Krise in den öffentlichen Kassen war kein Geld mehr für Neuerwerbungen vorgesehen. Nur nach massiven Protesten und Umschichtungen stehen jetzt wieder 2 Millionen Mark dafür zur Verfügung.
In der Festschrift schimpft die ZLB-Generaldirektorin Claudia Lux über die Umstände, die sich seit 100 Jahren nicht wesentlich geändert hätten: „Platznot und schlechte Unterbringung der Bibliotheksbestände ... Massenandrang und stickige Luft“. Deshalb fordert sie: Die ZLB müsse auf den Schlossplatz – was immer dort gebaut werde.
Gestern schloss sich Kultursenator Christoph Stölzl (CDU) dieser Forderung an. Die Bibliothek könne ein Magnet für Touristen und Interessierte in der Mitte der Stadt werden. „Täglich besuchen uns mehr als 7.000 Menschen aus Berlin und der Welt“, rühmen sich die Bibliothekare im Marstall, „damit sind wir aktuell die meistbesuchte kulturelle Einrichtung in der Hauptstadt.“ Und wenn die ZLB ihren Standort auf dem Schlossplatz erhalte, sei sogar mit 10.000 Besuchern täglich zu rechnen, erklärt Claudia Lux: „Die Zentral- und Landesbibliothek garantiert die allgemeine Belebung des Schlossplatzes.“ Wer sagt, in Bibliotheken rausche nicht das Leben?
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