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Wahlkämpfende RichterInnen

RichterInnen am Landgericht beklagen Personalnot und Arbeitsüberlastung. Justizbehörde hatte erst Ende Mai fünf Stellen zugebilligt  ■ Von Elke Spanner

Die Wahrheit, sagt Gerhard Schaberg, sei nicht mehr hinnehmbar. Und dürfe nicht zurückgehalten werden, nur weil sie „womöglich von interessierter Seite im Wahlkampf benutzt werden kann“. Drei Monate vor der Hamburger Bürgerschaftswahl wiesen die RichterInnen am Landgericht deshalb gestern darauf hin, dass ihre Arbeit seit rund sechs Jahren wegen Personalknappheit „nicht mehr nach rechtsstaatlichen Regeln zu bewältigen ist“. 97 Prozent aller RichterInnen unterzeichneten eine Erklärung, in der sie die Rücknahme der Stellen-Streichpolitik fordern.

Im Rahmen der städtischen Haushaltskonsolidierung ist seit 1995 die Zahl der Richterstellen in in dieser Instanz von 245 auf 207 reduziert worden – bei gleichbleibend hohem Eingang an neuen Fällen. Zivilrichter Jürgen Meyer rechnete vor, dass seine KollegInnen in diesem Jahr pro Kopf 260 neue Fälle zu bearbeiten haben werden – während das vorgesehene Pensum bei 140 liegt. Immer öfters würde er sich am Wochenende über schlechtes Wetter freuen, fügte er zynisch hinzu, „weil dann die Arbeit zu Hause nicht so schwer fällt“. Richter Rolf Seedorf, Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer und Mitglied des Gerichtspräsidiums, fasste zusammen, dass die KollegInnen „am Ende ihrer Kapazitäten angekommen sind“.

Bei Strafverfahren wirke sich die Personalnot besonders drastisch aus, weil einige Kammern über Monate mit Großverfahren blockiert seien – etwa im Bereich der „Organisierten Kriminalität“, wo zumeist mehrere TäterInnen auf der Anklagebank sitzen. Die Überlastung habe zur Folge, dass immer öfter Untersuchungsgefangene aus dem Gefängnis entlassen werden müssten, weil ihr Prozess nicht in den vorgeschriebenen sechs Monaten nach der Festnahme eröffnet werden kann. Auch im berüchtigten „Hells Angels-Verfahren“ gegen Beschuldigte aus dem Rotlicht-Milieu zeichne sich laut Strafrichter Gerhard Schaberg deren Entlassung aus der Untersuchungshaft ab.

Sein Kollege Ulf Brüchner kündigte an, künftig nicht mehr wie bisher Haftsachen vorzuziehen, sondern die Akten in der Reihenfolge ihres Eingangs zu bearbeiten. Denn für die übrigen Angeklagten verzögere sich ansonsten die Wartezeit auf ihren Prozess, was für sie extrem belastend sei. Könnten die RichterInnen ihre Aufgabe nicht mehr ordnungsgemäß erledigen, resümierte Schaberg, gefährde das die innere Sicherheit der Stadt: „Die wird nicht nur durch eine effiziente Arbeit der Polizei gewährleistet.“

Dass auch die Zivilgerichte in der Stadt überlastet sind, soll den Wirtschaftsstandort Hamburg gefährden. Denn in den Fällen, in denen die Streitparteien selbst den Ort des Gerichtes bestimmen können, würden sie sich vermehrt gegen Hamburg mit seinen langen Wartezeiten entscheiden.

Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD) zeigte Verständnis für die Sorgen der RichterInnen. Sie wies aber darauf hin, dass die Justiz seit sieben Jahren ein Drittel Sparquote weniger erfüllen musste als die anderen Ressorts des Stadt: „Die besondere Stellung als Garant des Rechtsfriedens haben Senat und Bürgerschaft seit Beginn der Konsolidierung mitbeachtet und berücksichtigt.“

Weil der Senat sich die Sorgen der RichterInnen zu eigen machte, hatte er Ende Mai der Wiederbesetzung von fünf Richterstellen zugestimmt, die auf der Streichliste standen. „Das ist schon etwas“, sagt dazu Landgerichtspräsidentin Constanze Görres-Ohde, „aber es reicht noch nicht“.

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