: Sturm und Drang im Handtaschenformat
Katholiken, Protestanten und säkulare Mopszüchter werden noch früh genug merken, was ihnen fehlt
Leidenschaft nur Leiden schafft, sagt der Volksmund. Schön wär’s! Was heute so alles als Leidenschaft durchgeht, ist schlicht lachhaft und von der Passion, dem Leiden, ungefähr so weit entfernt wie ein leichtes Herzflimmern vom ausgewachsenen Herzinfarkt.
Heftige Seelenregung, rasende Begierde, glühende Besessenheit, kurz, der reine Wahnsinn, der vom Verstand nicht mehr eingefangen werden kann, die Vernunft verfinstert und alle Prinzipien zum Teufel jagt – das ist Leidenschaft. Sie packt und überfällt uns, nicht zweck-, nicht zielgerichtet, und kümmert sich einen Dreck, was von uns übrig bleibt. Leicht einzusehen, warum das mit der Leidenschaft für den supersaugfähigen Wischmopp, grüne Gummibärchen oder Behälterbau nur bedingt zu tun hat. Wer heute von Leidenschaft spricht, will meist nur eins: uns weismachen, dass jeder x-beliebige, lächerliche Anlass taugt, um ein großartiges Gefühl und einzigartige Befriedigung zu erreichen. Risiken und Nebenwirkungen ausgeschlossen. Leidenschaftlich shoppen, backen, staubsaugen. Alltägliche Vorlieben und Neigungen im Handtaschenformat werden plötzlich zum Sturm und Drang. Wohin, wohin nur soll er führen? Nirgendwohin.
Leidenschaft light ist so blutleer, gefahrlos und spannend wie Hans Eichel. Verschwunden das heillose Schwanken zwischen ekstatischem Glückszustand und tiefster Verzweiflung. Die Leidenschaft ist von ihrer finsteren Herkunft, dem Leiden, befreit und damit banal geworden und langweilig.
Schuld daran sind natürlich die Katholiken. Mentalitätsgeschichtlich betrachtet. Und auch die Protestanten. Die vielleicht sogar noch mehr. Und da in der nächsten Woche Evangelischer Kirchentag ist, diese Mischung aus Party, Parteitag und Erweckungspredigt, drängen sich ein paar Gedanken zur Leidenschaft der Christen und christlicher Leidenschaft geradezu auf.
Protestanten waren stets nur an einem Punkt leidenschaftlich – im Leidenschaffen. Nix strahlendes Halleluja, nur Kreuz und irdischer Jammer, Schmerz angesichts der Unvollkommenheit der Welt und der Fehlbarkeit des Menschen, überall SÜNDE . . .
Wer das nicht glaubt, schaue sich doch mal die moderne Kunst in evangelischen Kirchen an. Haufenweise Grauen erregende Barlach-Verschnitte mit Spinnengliedern und Augen wie abgekochter Fisch. Der Mensch – in Stein und Holz gehauene Qual. Das kommt nicht von ungefähr.
Das kommt, weil die Protestanten ein Gewissen haben, so einen freudlosen grauen Kerl innen drin, der ihnen beständig zuruft: „Denk an die Folgen!“ Als internalisierter Zensor erstickt er gnadenlos jeden Hang zum Hemmungslosen. Nie würde der Protestant, der arme Kerl, deshalb so weit kommen, dass eine Gemütserregung seine Vernunft verdunkelt. Der Zensor frisst das Glück der Leidenschaft und lässt nur die Kehrseite übrig, das Leiden und das schlechte Gewissen. Das tritt dann, verkleidet als Arbeit und Pflichtgefühl, in Erscheinung.
Das ist nicht wirklich sexy und deshalb ist Leiden(schaft) auf Evangelisch ja auch kein attraktives Rollenmodell für den säkularen Zeitgenossen.
Auf den ersten Blick haben die Katholiken das Problem besser gelöst. Sie haben den Zensor externalisiert und zum Papst gemacht. Dadurch gibt's erst einmal Freiraum zur Sünde. Die Epithymia, die Leidenschaft als sündige Fleischeslust, ist nicht umsonst ein altes katholisches Steckenpferd. Die Strafe kommt sowieso, also kräftig sündigen, damit sich's auch lohnt.
Wahrscheinlich hält sich der Katholik den Papst, weil er zwar irgendwo das Leiden, die Strafe, für notwendig hält, aber nichtsdestotrotz machen kann, was er will. Zweitausend Jahre lang den inneren Schweinehund gegen die Moralpredigten der Pfaffen verteidigt – das übt zweifellos.
Das Problem ist allerdings, dass der säkulare Zeitgenosse sich mitnichten diesem katholischen Leidenschaftsmodell angeschlossen hat. Nachdem er das evangelische Vorbild wegen allzu viel Gram als uncool verworfen hatte, trickste er den Katholiken aus. Von den zwei Komponenten der katholischen Leidenschaft akzeptiert der moderne Zeitgenosse nur einen Teil, das angenehme, weil starke Gefühl. Den zweiten Bestandteil, das Leiden, ignoriert er souverän. Und damit auch den Papst, die strafende Instanz. Was interessiert ihn der schon? Schließlich haben der Pontifex selbst und auch seine Katholiken sich nicht besonders viel Mühe gegeben, hip zu sein.
Als die Leidenschaft die Passion verloren hat, war’s mit ihr vorbei. Nichts steht seitdem ihrer leichten Konsumierbarkeit, der Verwendung in allen Lebenslagen im Wege. Dem Zahnarzt aus Leidenschaft und dem leidenschaftlichen Mopszüchter. Sie werden schon merken, was sie davon haben. Was es bedeutet, sich emotional nur auf dem Flachland zu bewegen. Ohne Abstürze. Aber auch ohne Höhenflug. Sie werden schon sehen, dass die Vermeidung der Leidenschaft das wahre Leiden schafft.
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